Vor 60 Jahren retten Seenotretter die Besatzung der „Ondo“ aus Sturm und Brandung
Von Anfang Dezember bis Anfang Februar 1961/62 wird die deutsche Nordseeküste von schweren Stürmen heimgesucht. Sie gipfeln in einem Orkan, der von Meteorologen „Vincinette“ getauft wird: die Siegreiche. Deiche brechen. In Hamburg steigt das Wasser so hoch wie nie zuvor. 340 Menschen kommen ums Leben. Doch das ahnt noch niemand, als Anfang Dezember der Frachter „Ondo“ mit einer Ladung Kakao in die Elbe einläuft und dort in die Brandung und den tückischen Treibsand des Großen Vogelsandes gerät...
Fünf ihrer Schiffe hat die britische Elder Dempster Lines-Reederei aus Liverpool in den fünfziger und sechziger Jahren nach afrikanischen Orten mit dem Anfangsbuchstaben „O“ benannt: Die „Obuasi“, die „Onitsha“, die „Owerri“, die „Oti“ und die „Ondo“ – Frachtschiffe mit Längen von mehr als 130 Metern.
Die „Ondo“, die den Namen des gleichnamigen nigerianischen Bundesstaates trägt, ist 1956 bei Harland & Wolff in Belfast (Irland) gebaut worden. Sie taucht jedoch bereits wenige Jahre später in der Schiffsliste nicht mehr auf. Am 6. Dezember 1961 strandet sie auf dem Großen Vogelsand in der Elbmündung.
Vielleicht kommt sie direkt aus Sapele in Nigeria und hat dort Kakao geladen, vielleicht hat es auch einen weiteren Stop in Ghana gegeben, um weitere Ladung zu übernehmen. Am 6. Dezember 1961 befindet sich die „Ondo“ jedenfalls schon in der Deutschen Bucht. Ihr Zielhafen ist das lettische Riga. Auf der Elbe muss sie einen Lotsen übernehmen.
Das Wetter ist schlecht. Gewitter mit Regen- und Hagelschauern machen dem großen Frachter mit seiner Besatzung nichts aus, aber orkanartige Böen ziehen über die Deutsche Bucht hinweg und verwandeln die Elbmündung in einen Hexenkessel.
Die Flussmündung sind die lang ins Meer hinauslaufenden Arme, in denen sich die Elbe in der Nordsee verliert. Große Tiefen und Sandbänke, die bei Niedrigwasser freiliegen, wechseln sich ab. Das Wechselspiel aus Tiefs und Flachs führt bei Sturm zu extremem Seegang.
Viele Schiffe gingen in diesem Revier über die Jahrhunderte verloren. Aus Sicherheitsgründen herrscht dort Lotsenpflicht. Ab einer bestimmten Größe haben alle Schiffe beim Anlaufen der Elbe einen revierkundigen Lotsen an Bord zu nehmen – das ist heute genauso wie vor 60 Jahren.
Doch der Übergabeversuch des Lotsen endet bei den herrschenden Wetterbedingungen mit einem schweren Unglück. Der große Lotsendampfer „Kapitän Hilgendorf“ hat sein kleines Versetzboot mit den Matrosen Martin Szakny und Henry Jetzi sowie dem Seelotsen Ulrich Engbruch, der die „Ondo“ reinbringen soll, ausgesetzt. Sie kämpfen sich in der groben See an die Leeseite der „Ondo“ vor. Der Lotsendampfer kann sie dort nicht mehr beobachten.
So hört die Besatzung erst über Funk, dass das Lotsenversetzboot beim Längsseitsgehen gekentert ist. Der Kapitän der „Ondo“, William Farquhar, sagt später aus, dass er befürchtet habe, dem Feuerschiff „Elbe 2“ zu nahe zu kommen. Deshalb hat er das Längsseitskommen des Versetzbootes nicht weiter durch Manöver unterstützt. Nach dem Kentern des Lotsenbootes lässt er sofort die Maschinen stoppen, um die im Wasser Treibenden nicht durch die Propeller zu gefährden. Fast sofort wird die „Ondo“ manövrierunfähig. Sie vertreibt aus dem Fahrwasser und kommt an der Kante des Großen Vogelsandes fest.
Um 5.15 Uhr am Nikolaustag, dem 6. Dezember 1961, empfängt der Seenotrettungskreuzer RUHR-STAHL auf der DGzRS-Station Cuxhaven den Funkspruch der „Kapitän Hilgendorf“: Drei Männer werden vermisst. Die „Ondo“ ist gestrandet.
In Cuxhaven gibt es zu dieser Zeit auch noch eine Seenotwache, die die SEENOTLEITUNG BREMEN nun per Fernschreiben informiert:
„Von Lotsendampfer ‚Kapitän Hilgendorf‘ um 05 Uhr 15 erhalten: Beim Versetzen ist ein Boot, besetzt mit 2 Besatzungsmitgliedern und 1 Lotsen, längsseits des englischen Motorschiffes ‚Ondo‘, Elder Dempster Line, 1956 gebaut mit 5435 BRT, gekentert. Der Engländer liegt auf Grund. Um 05 Uhr 25 deutscher Schlepper ‚Danzig‘ Cuxhaven zur Unfallstelle bei der Tonne 4, Nähe Feuerschiff ‚Elbe2‘! 05 Uhr 50 deutscher Schlepper ‚Wulf‘ ausgelaufen. Ferner lief um 05 Uhr 30 auch Rettungsboot RUHR-STAHL aus zur Unfallstelle. Die 2 Besatzungsmitglieder und der Lotse werden noch vermißt. Weitere Meldungen folgen."
Der Sturm hat auf zehn bis elf Beaufort aufgebrist. Im offenen Fahrstand steuert Vormann Rolf Hoffmann die RUHR-STAHL durch die Dunkelheit. Mit ihm an Bord sind Heinrich Thiel (65) und als Maschinist Georg Bartelsen (32), die die Scheinwerfer bedienen. Die Ebbe hat bereits eingesetzt. Die Vermissten könnten immer weiter von der Küste fortgezogen werden. Das Suchgebiet vergrößert sich von Minute zu Minute.
Mit dem ersten Tageslicht beteiligt sich auch das 14 Meter lange Motorrettungsboot RICKMER BOCK aus Friedrichskoog an der Suche. Am späten Vormittag findet sie das gekenterte Versetzboot. Die Suche nach den Vermissten muss ergebnislos aufgegeben werden.
Die RUHR-STAHL bleibt für den geplanten Befreiungsversuch der „Ondo“ auf Standby. Die Tide hat den Frachter weiter auf den Großen Vogelsand versetzt, er liegt nun mitten in der Brandung. Die RUHR-STAHL setzt mehrere Inspektoren über. Weitere Schlepper sind in Marsch gesetzt worden, können jedoch nichts ausrichten.
Treibsand schwemmt das Wrack ein
Am nächsten Morgen, nach einer Nacht vor Anker bei Neuwerk, lotet die Besatzung der RUHR-STAHL für die Schlepper rund um die „Ondo“ die Tiefen aus. Der Wind hat abgenommen, bläst aber immer noch mit kräftigen fünf bis sechs Beaufort. Die Versuche von fünf Schleppern, den Frachter über Hochwasser zu befreien, richten wiederum nichts aus. Man versucht Ladung zu leichtern und wirft Kakaosäcke über Bord. Die Engländer wollen das Schiff nicht aufgeben, auch wenn sie dringlich darauf hingewiesen werden, dass die Mahlsände Schiff und Besatzung gefährdeten. Vormann Hoffmann lotet erneut, und nun zeichnet sich die große Gefahr bereits ab: „Löcher und Anhäufungen haben sich gebildet. Unterm Heck ist eine größere Höhlung im Mahlsand entstanden, und auf Höhe Ihrer Brücke sind höchstens noch zwei Meter Wasser“, meldet er über Funk. Der Mahlsand hatte sein gefährliches Werk begonnen und schwemmt die „Ondo“ langsam ein.
Die RUHR-STAHL fährt in den nächsten Tagen weitere Männer hin und her, birgt einen erkrankten Matrosen ab. Gegen Abend des dritten Tages hat sich der Wellentunnel des Frachters durchgebogen: Die „Ondo“ meldet Wassereinbruch in den Laderäumen. Im Wellentunnel und in den beiden hinteren Laderäumen steht das Wasser vier Meter hoch; das Schiff ist leck. Im Schiffsraum steht und fällt das Wasser nun mit der Tide. Wetterverschlechterung wird gemeldet. Alle Schleppversuche bleiben erfolglos.
Um 16 Uhr, am Samstag, den 9. Dezember, übernimmt die RUHR-STAHL 24 Mann der Besatzung und bringt sie nach Cuxhaven. Um 20.10 Uhr übernehmen die Seenotretter weitere 18 Mann. Auf Station kann die Seenotrettungskreuzer-Besatzung einige Stunden schlafen, wird aber um 5 Uhr zur Kollision eines Fischdampfers mit einem französischen Schiff gerufen. Einige Matrosen und Schauerleute versuchen unterdessen weiterhin, einen Teil der Ladung von der „Ondo“ zu retten. Kleinere Schiffe übernehmen Säcke voller Kakao, Einrichtung aller Art wird abgebaut und verladen. Der Strom ist an Bord inzwischen ganz ausgefallen.
Um 11.15 Uhr trifft die RUHR-STAHL mit dem Fischdampfer in Cuxhaven ein. Im DGzRS-Jahrbuch 1962 werden die folgenden Stunden geschildert: „Nachdem dieser Havarist in Sicherheit gebracht war, lief RUHR-STAHL wieder zur ,Ondo‘ und blieb die Nacht über in ihrer Nähe. Am 11. Dezember aber verschlechterte sich das Wetter zusehends. Um 13.00 Uhr musste die ,Ondo‘ endgültig verlassen werden. Ohne Schutz in der längslaufenden See schwer arbeitend, mußten Vormann Rolf Hoffmann, Heinrich Thiel und Georg Bartelsen die Leute einzeln mit Sicherheitsleinen von der Jakobsleiter[3] bei günstiger Gelegenheit übernehmen. In Böen erreichte der Südwestwind Stärke 8. Nachdem der Kapitän als letzter sein Schiff verlassen hatte, waren neun Besatzungsmitglieder und 14 Schauerleute um 14.10 Uhr wohlbehalten an Bord des Seenotkreuzers.“
Die „Ondo“ ist unrettbar verloren, auch wenn das Wrack dem Mahlsand erstaunlich lange standhält. Das Wetter beruhigt sich jedoch immer noch nicht.
Am 20. Januar 1962, nur eineinhalb Monate später, strandet der italienische Frachter „Fides“ bei Südwest 7 mit 32 Mann Besatzung unweit der „Ondo“.
Nach wenigen Stunden bricht der 148 Meter lange, mit Erz beladene Frachter vor der Brücke auseinander. Wieder ist es die RUHR-STAHL, die bereits seit Stunden am Havaristen ausgeharrt hat.
In mehreren wagemutigen Fahrten holen die Seenotretter unmittelbar nach dem Zerbersten des Schiffes 32 Besatzungsmitglieder, den Lotsen und einen Bergungsinspektor vom Wrack.
Drei Wochen später, am 12. Februar, wurde die gesamte Nordseeküste von einer schweren Sturmflut heimgesucht. Der Nordweststurm der darauffolgenden Tage drückte das Wasser weiter in die Deutsche Bucht. In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar kam es dann zur Katastrophe. Ein Orkan traf auf die deutsche Küste. Die Wasserstände stiegen überall auf Rekordhöhen, Deiche hielten nicht mehr stand und brachen in Niedersachsen, in Hamburg, in Schleswig-Holstein. Bei der dramatischen Sturmflut kamen im Orkan 340 Menschen ums Leben, allein 315 in Hamburg.
Auf der „Ondo“ harrten in diesem Orkan fünf Mann von der Bugsier-Reederei aus. Im Auftrag der Reederei hatten sie die „Ondo“ vor Plünderung bewahren sollen. Der Frachter bekam in dieser Nacht fast 60 Grad Schlagseite, die fünf Männer an Bord sendeten verzweifelt Mayday-Rufe. In Cuxhaven versuchten Feuerwehr, Polizei, Soldaten der Bundeswehr und Freiwillige unterdessen verzweifelt, die Deiche zu retten, was nur teilweise gelang. An zwei Stellen gab es Durchbrüche. Das Wasser stand bis zum Rathaus.
Am nächsten Tag gelingt es der RUHR-STAHL, bis zur „Ondo“ durchzukommen. Das Wrack ist in der Brandung von donnernder See umgeben. Im Sturm lässt sich kein Kontakt zu den Männern an Bord aufnehmen. Auch Funkkontakt lässt sich nicht herstellen. Einen Tag später unternehmen die Seenotretter einen weiteren Versuch. Das Tochterboot TÜNNES wird in der Brandung schwer beschädigt, Wasser dringt durch zerborstene Scheiben ein. Nur mühsam kann die TÜNNES wieder auf den Kreuzer gelangen.
Erst bei einem weiteren Versuch mit der RUHR-STAHL selbst können die Männer von der „Ondo“ einer nach dem anderen von vom Wellen überfluteten, steilen Vorschiff auf den Kreuzer springen. Fünf Mal geht Hoffmann mit dem Bug an die „Ondo“ heran, fünf Mal gelingt das lebensgefährliche Manöver.
Der Maler Peter Barthold Schnibbe ließ sich von der Geschichte der "Ondo" inspirieren und verarbeitete ein Abbild des Wracks in seinem Triptychon "Riders on the Storm". Es enthält einige Ur-Motive aus der Geschichte der Seenotretter. In der Predella fand auch ein Bildnis von Vormann Eilers einen Platz.
Später wird Rolf Hoffmann für diese Rettung die Goldene Medaille für Rettung aus Seenot am Bande durch die DGzRS verliehen, Maschinist Georg Bartelsen erhält die Silberne Medaille. Für Rolf Hoffmann selbst ist es nicht sein schwerster Einsatz. Nur zwei Jahre später holt er im Februar den schwer beschädigten Seenotrettungskreuzer ADOLPH BERMPOHL aus dem Orkan. Er ist menschenleer. Seine vier Kollegen und drei zuvor gerettete niederländische Fischer sind ums Leben gekommen. Bis Rolf Hoffmann 1981 in den Ruhestand geht, fährt er als Vormann noch die ARWED EMMINGHAUS und die HERMANN RITTER.
Die „Elder Dempster Lines“ gibt es nicht mehr. Nach 1986 war sie bis ins Jahr 2000 nur noch als Schiffsmakler tätig. Harland & Wolff in Belfast ging 2019 nach mehr als 150 Jahren beinahe in Konkurs, wurde dann aber von einer britischen Firma übernommen und weitergeführt. Die „Ondo“ ist keinesfalls das berühmteste Schiff dieser traditionsreichen Werft, das verlorenging. In den Jahren 1909 bis 1911 hatte Harland & Wolff für die White Star Line die „Titanic“ gebaut. Die „Ondo“ und auch die „Fides“ konnten aus ihrem nassen Grab nie befreit werden. Noch heute liegen ihre Überreste in den Mahlsänden der Elbmündung.
Jedes Jahr fahren die Seenotretter Einsätze auf den Sänden in der Elbmündung. Am 21. September 2021 kenterte ein Fischkutter – seinen fünf Besatzungsmitgliedern gelang es, in eine Rettungsinsel zu springen, sie wurden unverletzt von einem weiteren Fischkutter gerettet. Die Seenotretter der Station Cuxhaven konnten die Kenterung des Fischkutters nicht verhindern. Er versank auf dem Großen Vogelsand.