Vor 30 Jahren: Seenotrettungskreuzer ALFRIED KRUPP verunglückt schwer
Anfang Januar 2025 jährt sich eines der schwersten Unglücke aus der Geschichte der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) zum 30. Mal. In der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 1995 verunglückte der Seenotrettungskreuzer ALFRIED KRUPP der DGzRS-Station Borkum auf dem Rückweg von einem Einsatz in der Nordsee. Vormann und Maschinist kamen ums Leben. Seenotretter der Station Norderney retteten zwei weitere Crewmitglieder. Jetzt, drei Jahrzehnte später, zeichnet eine aufwendige Filmdokumentation der DGzRS die Ereignisse der tragischen Nacht nach.
Mit voller Kraft voraus durch den Sturm
In der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 1995 tobt ein Orkan über der Deutschen Bucht.
Die ALFRIED KRUPP hat nachmittags einen Krankentransport nach Eemshaven durchgeführt. Um 19 Uhr ist der Borkumer Seenotrettungskreuzer wieder an seinem Es herrscht schwerer Nordweststurm mit neun bis zehn Beaufort. Die Temperatur ist auf vier Grad gesunken. Um 19.40 Uhr erneut Alarm: Während eines Einsatzes ist von einem niederländischen Rettungsboot ein Seenotretter über Bord gegangen. Die ALFRIED KRUPP macht die Leinen los. Mit voller Kraft voraus geht es durch den Sturm wieder in die Dunkelheit hinaus.
An Bord sind Vormann Bernhard Gruben, Bernd Runde, Diederich Vehn und Maschinist Theo Fischer. Alle sind gestandene Seeleute, Bernhard Gruben und Theo Fischer beide seit 1976 bei der DGzRS. Ihre Erleichterung ist unbeschreiblich, als sie nach mehr als zwei Stunden hören, dass ihr niederländischer Kollege von einem Hubschrauber gerettet worden ist. Die ALFRIED KRUPP kann wieder nach Hause fahren und geht auf Gegenkurs.
Die Seegangsbedingungen werden immer unberechenbarer. Bernd Runde, mit Lifebelt eingeklinkt im oberen offenen Fahrstand neben Vormann Gruben, stürzt bei dem schweren achterlichen Seegang und schlägt mit dem Gesicht so hart auf das Fahrpult auf, dass er sich alle vorderen Zähne losschlägt. Vormann Gruben schickt ihn auf die Kammer, wo er sich hinlegt. Theo Fischer geht statt seiner auf die Brücke. Mehrfach kurz nacheinander verliert die ALFRIED KRUPP die Ruderwirkung – das Schiff gerät in den gigantischen Wellenbergen ins Surfen, reitet hoch in der Welle, Wasser und Schiff gleich schnell. Die Maschinen geben Alarm und Theo Fischer verlässt die offene Brücke zum Kontrollgang.
„Holt jo fast!“
Bernhard Gruben sieht die See kommen. „Holt jo fast!“ (haltet euch fest) schreit er nach unten, und im nächsten Moment hängt Diederich Vehn im unteren Fahrstand quer über dem Fahrpult, Bernd Runde findet sich an seiner Kammerdecke wieder. Die ALFRIED KRUPP dreht sich kieloben, richtet sich dann in der See wieder auf.
Der Mast des Seenotrettungskreuzers knickt ab. Alles fliegt durcheinander. Gegenstände stecken in der Decke, unter anderem der Fernseher. Die Maschinen stehen still. Scheiben brechen mit ihren Rahmen aus dem Fahrstand, Wasser dringt ein. Die gesamte Elektrik fällt aus.
Theo Fischer ist nicht mehr an Bord. Bernhard Gruben überlebt die Durchkenterung im oberen, offenen Fahrstand, aber er ist schwer verletzt. Seine eigentlich reißfeste Rettungsweste ist teilweise zerstört, ihre schweren Karabinerhaken verbogen. Das ruderlose Schiff wird zum Spielball der Wellen.
Die Notbeleuchtung springt an. Diederich Vehn ist zwischen Geräten eingeklemmt. Bei der Durchkenterung ist sein Fuß gebrochen. Bernd Runde kriecht den Niedergang hoch, Wasser kommt ihm entgegen. Sie helfen dem Vormann durch die Seitentür des Fahrstandes in den Aufbau. Ein Handfunkgerät funktioniert noch. Die Besatzung der ALFRIED KRUPP sendet Mayday, schießt rote Raketen ab, beides Signale für unmittelbare Lebensgefahr. Ob irgendjemand die Notsignale erhält, wissen sie nicht.
Detlev Finster | heute Mitarbeiter im MRCC, damals Marineflieger
„Es war absolut unmöglich, jemanden vom Schiff zu holen“
Nach gefühlt endloser Zeit schließlich ein Hoffnungsschimmer: Ein SAR-Hubschrauber steht über ihnen, leuchtet das Deck aus. Sie wagen es, den Aufbau zu verlassen. Bernhard Gruben hat sich eine andere Rettungsweste angezogen. Der Hubschrauber hat das Windenseil heruntergelassen und sie versuchen, es zu fassen zu bekommen. Der Kreuzer legt sich von einer Seite auf die andere, wird im Seegang um zig Meter versetzt.
Oberleutnant zur See Detlev Finster, der Jahre nach seiner Zeit bei der Marine als Wachleiter im MRCC der DGzRS anheuerte, erinnert sich: „Im Licht des Suchscheinwerfers konnten wir sehen, dass der Kreuzer auf die eine Seite gedrückt wurde, dann auf die andere. Wir haben das Windenseil runtergelassen, aber es war absolut unmöglich, jemanden vom Schiff zu holen.“ Der Abbergeversuch muss aufgegeben werden.
„Die Bilder vergisst man nicht“
Diederich Vehn mit seinem gebrochenen Fuß und Bernd Runde erreichen kriechend den rettenden Aufbau, Bernhard Gruben nicht. Eine überkommende See reißt ihn von Deck. Für eine Sekunde vermeinen die Überlebenden das Notlicht der Rettungsweste in der aufgewühlten See zu erkennen.
Nichts können sie tun. Bernd Runde zieht die Tür hinter ihnen zu. Eine Welle nach der anderen trifft den Kreuzer mit schweren Schlägen. Der Sturm hat auf Orkanstärke aufgebrist. Das Notlicht flackert. Auch das letzte Handfunkgerät ist unbrauchbar geworden.
Niederländische und deutsche Seenotrettungskreuzer waren ausgelaufen, aber davon wissen sie an Bord nichts. Von Norderney ist um 22.50 Uhr die 19 Meter lange OTTO SCHÜLKE ausgelaufen, am Ruder Vormann Peter Saß.
Peter Saß ist 2017 verstorben. Aber Michael Ulrichs ist weiterhin Seenotretter auf der Station Norderney. „Die Bilder vergisst man nicht“, sagt er heute, „die hat man immer noch im Kopf.“
Und auch Hermann Janssen, seinerzeit Maschinist an Bord und inzwischen im Ruhestand, sagt: „Obwohl es jetzt lange her ist, habʼ ich das alles noch vor Augen.“ Berend Dirksen ergänzt: „Das waren Naturgewalten, die kann man nicht beschreiben.“ Er stieg in jener schicksalsträchtigen Nacht als vierter Mann an Bord.
Die OTTO SCHÜLKE fährt durchs Watt südlich von Juist, Memmert und Borkum. Der Wasserstand ist so hoch, dass der flachgehende Seenotrettungskreuzer quer über die Sandbänke läuft. Doch bei zehn Beaufort – zunehmend – tobt die Nordsee auch im Watt. Der schwere Seegang versetzt das Schiff immer wieder um mehrere Meter.
Die See kommt von allen Seiten
Noch weiß die Besatzung der OTTO SCHÜLKE nicht wirklich, was geschehen ist. Die ALFRIED KRUPP braucht Hilfe, das ist alles. Sie gehen davon aus, dass sie den über sieben Meter längeren Kreuzer der Nachbarstation vielleicht einschleppen müssen.
Der Sturm führt zu derart chaotischen Seegangsverhältnissen, dass Vormann Peter Saß auf Borkum einläuft, damit die Besatzung die Schleppleine vorbereiten kann.
Bis zu diesem Zeitpunkt sind sie nicht die einzigen auf Rettungsmission für die ALFRIED KRUPP. Mehrere Schiffe und auch der Seenotrettungskreuzer WILHELM KAISEN von Helgoland sind auf dem Weg in das Suchgebiet, von wo der letzte Funkspruch des Borkumer Seenotrettungskreuzers gekommen ist.
Als die OTTO SCHÜLKE im Suchgebiet ankommt, hat der Wind auf Orkanstärke zugenommen. Die See kommt von allen Seiten, eine Richtung ist nicht mehr auszumachen. Die WILHELM KAISEN hat beim Anlauf solche Wellenschläge eingesteckt, dass die Laufbleche des Decks hochgebogen und Teile der Ausrüstung zerstört sind. Sie muss abdrehen. Als klar wird, welche Bedingungen im Suchgebiet herrschen, untersagen Behörden ihren Schiffen, ins Suchgebiet einzulaufen und die Rettungsfahrt fortzusetzen, um das Leben ihrer eigenen Crews nicht aufs Spiel zu setzen.
Die ALFRIED KRUPP taucht im Licht des Suchscheinwerfers der OTTO SCHÜLKE auf und ist dann wieder weg. Wenn die OTTO SCHÜLKE einen Wellenberg abreitet, sehen sie sie bisweilen weit unter sich, wie ein Spielzeugschiff. Im oberen offenen Fahrstand stehend, versucht Peter Saß, an die ALFRIED KRUPP heranzumanövrieren.
Ein Anlauf nach dem anderen misslingt. Maschinist Hermann Janssen kümmert sich die ganze Zeit um die Maschine. Macht sie nicht mehr mit, werden sie selbst zum Spielball der Wellen.
Plötzlich wird die OTTO SCHÜLKE von einer Welle mit Macht vorwärts gedrückt, im Wellental vor ihnen die ALFRIED KRUPP. Eine Kollision erscheint unausweichlich. Peter Saß gibt äußerste Kraft rückwärts. Das Heck der ALFRIED KRUPP schwenkt in letzter Sekunde geisterhaft direkt vor ihrem Bug vorbei.
Die Wellen kommen von allen Seiten. Die Besatzung kann immer nur für einen Moment etwas sehen, wenn ihr Suchscheinwerfer die KRUPP streift.
„Wir waren wie ein Entchen auf dem Wasser“
Und dann ist jemand auf dem Vorschiff. Bernd Runde, einer der beiden Überlebenden, ist es trotz seiner schweren Verletzungen gelungen, die aufgetrommelte Ankerleine loszumachen und aus dem dunklen Kabelgatt aufs Deck zu hieven, festzumachen und außenbords zu fieren. Wie eine weiße Schlange treibt die Leine auf dem Wasser.
Dieses Mal gelingt der erste Anlauf.
Mit dem Hakstock angeln Hermann Janssen, Michael Ulrichs und Berend Dirksen das schwere Tauwerk aus der See.
Michael Ulrichs umklammert die Leine, die anderen beiden schleppen das Ende nach achtern zum Schlepphaken. Auf dem bockenden Seenotrettungskreuzer hat die Besatzung Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Berend Dirksen rutscht aus, die Leine entgleitet den Rettern, fällt von ganz hinten ins Wasser, aber Michael Ulrichs hält sie auf dem Vorschiff immer noch, er wird gegen die Reling geschlagen, bleibt dort im Lifebelt am Strecktau hängen, die Leine immer noch fest umklammert.
„Die lässt du nie wieder los“, denkt er, auch wenn er sonst kaum einen Gedanken fassen kann.
Dann hat die OTTO SCHÜLKE die ALFRIED KRUPP endlich im Schlepp. Sie sind alle noch nicht aus der Gefahrenzone, aber sie haben die ALFRIED KRUPP am Haken, das ist Glück. In den Wellenbergen sehen sie nichts.
Michael Ulrichs hängt mit dem Gesicht im Gummi-Blendschutz des Radargerätes, um die Tonnen zu finden. Die Revierzentrale will ihnen Radarberatung geben, will sie durch den Schifffahrtsweg lotsen, aber Peter Saß lehnt ab, er bleibt außerhalb des Fahrwassers. Die Gefahr, dass sie im Fahrwasser eine Tonne rammen könnte, ist zu groß. Das Schiff ist doppelt so schwer wie die verhältnismäßig kleine OTTO SCHÜLKE. Der Schlepphaken ächzt und knarrt unter der großen Last. Wird er halten? Die ALFRIED KRUPP schlingert als dunkles Etwas hinter ihnen durch die Nacht. Bisweilen zerrt der Anhang so stark an der kleinen OTTO SCHÜLKE, dass die Besatzung das Gefühl hat, rückwärts gezogen zu werden, dann wieder werden sie vorwärts geschoben.
„Wir waren wie ein Entchen auf dem Wasser, wir sind einfach hochgesprungen und über die Seen hinweg geflogen“, erinnert sich Michael Ulrichs. „Mir war kotzübel.“
Hermann Janssen, der die ganze Zeit den Funkverkehr macht, reicht ihm immer wieder den Eimer. Michael Ulrichs übergibt sich, Hermann Janssen leert den Eimer. Er wird nicht seekrank, hängt sich wieder über den Gummi-Blendschutz des Radars, gibt dem Vormann weiter Anweisungen.
„Da brach für uns eine Welt zusammen“
Hinter ihnen tauchen die Lichter der „Jan van Engelenburg“ auf, einem niederländischen Seenotrettungsboot. Sie wollen es wagen, einen Mann auf die ALFRIED KRUPP überzusetzen, zu der es immer noch keine Verbindung gibt.
„Wartet, bis es ruhiger wird“, sagt Peter Saß über Funk. Sie haben das berüchtigte raue Hubertgat hinter sich gelassen und laufen neben dem Westeremsfahrwasser in langsamer Schleppfahrt Richtung Eemshaven.
Schließlich riskiert es die Besatzung der „Jan van Engelenburg“ an der geschleppten KRUPP längsseits zu gehen. Ein Mann springt aufs Deck. Fünf Minuten später, um 3.27 Uhr, erhält die OTTO SCHÜLKE über Funk die Nachricht, dass Bernhard Gruben und Theo Fischer nicht an Bord sind.
„Da brach für uns eine Welt zusammen“, sagt Michael Ulrichs. „Wir dachten, wir hätten es geschafft, hätten alle gerettet. Und dann das.“
Am liebsten wären sie sofort umgedreht, zurück in die Hölle, um zu suchen. Eine sinnlose Idee ohne jede Aussicht auf Erfolg, das ist ihnen selbst klar.
Der Schleppzug mit der schwer beschädigten ALFRIED KRUPP trifft am Morgen um acht Uhr in Eemshaven ein. Fünfeinhalb Stunden sind vergangen, seitdem die OTTO SCHÜLKE die ALFRIED KRUPP gefunden hat. Nach langen Stunden stehen Retter und Gerettete sich zum ersten Mal gegenüber, nehmen sich in die Arme.
Niemand kann fassen, was in dieser Nacht geschehen ist.
Für den Rest seines Lebens verbindet Bernd Runde mit der Besatzung der OTTO SCHÜLKE und den niederländischen Kollegen eine enge Freundschaft. Nur diesen Männern ist wirklich bewusst, welch seemännische Leistung sie alle in dieser Nacht vollbracht haben.
Diederich Vehn betritt nie wieder einen Seenotrettungskreuzer. Die ALFRIED KRUPP wird instandgesetzt und versieht ein halbes Jahr nach dem Unglück wieder ihren Dienst auf der Station Borkum. Bernd Runde steigt nach einer langen Genesungszeit wieder ein und bleibt bis zu seinem Ruhestand Seenotretter auf der ALFRIED KRUPP.
Ende 2017 geht er auf seine letzte große Reise. Auf seinen Wunsch wird seine Asche von Bord der ALFRIED KRUPP an der Stelle dem Meer übergeben, an der er mehr als 23 Jahre zuvor seine Kollegen Bernhard Gruben und Theo Fischer verloren hat.
2020 geht die ALFRIED KRUPP außer Dienst. Ihre Zeit im lebensrettenden Einsatz ist jedoch noch nicht vorbei. Heute versieht sie den Such- und Rettungsdienst im Auftrag der uruguayischen Marine vor den Küsten von Uruguay.