Axel Mussehl kennt die Seenotretter, seit er denken kann:
Als Junge war er mit seinem Vater oft an Bord der Rettungseinheiten der Station Travemünde. Mittlerweile gehört der 27-jährige Polizist selbst zur Freiwilligen-Besatzung des Seenotrettungsbootes ERICH KOSCHUBS – und hat schon mehrfach Leben gerettet.
Als gegen 19.10 Uhr sein Smartphone klingelt, schaut Axel Mussehl kurz auf den Bildschirm. Dort steht: „MRCC Bremen Rescue“. Schlagartig ist er hochkonzentriert, drückt die Ziffer 1 auf seinem Telefon. Jetzt weiß die Rettungsleitstelle See der DGzRS, dass er sich sofort auf den Weg zum Seenotrettungsboot ERICH KOSCHUBS macht. Schnell zieht er sich um, liest die kurze SMS der Zentrale: „Notfalleinsatz – leblose Person auf Segelyacht vor Travemünde.“ Für den freiwilligen Seenotretter der Station Travemünde beinhalten diese knappen Worte alle wichtigen Informationen. Nun weiß er: Je schneller er ist, desto größer ist die Überlebenschance für den zusammengebrochenen Menschen.
Axel Mussehl schwingt sich auf sein Fahrrad, tritt kräftig in die Pedale. Nicht einmal vier Minuten braucht er an diesem letzten Mittwoch im September 2021 bis zum Liegeplatz der ERICH KOSCHUBS. Dort streift er sich die Rettungsweste über, bespricht sich kurz mit seinen Kollegen Torben Brenker und Wolfgang Haltern. Sie machen das Seenotrettungsboot klar und vereinbaren mit den Lotsen nebenan: Sobald die ebenfalls alarmierten Notfallsanitäter und die Notärztin vom Rettungsdienst der Feuerwehr Lübeck sowie weitere Seenotretter vor Ort sind, führen sie diese mit ihrem Lotsenboot „Travemünde“ nach. Es kommt jetzt auf jede Minute an. Je früher sie dem stillstehenden Herzen mit ihrem Defibrillator einen Schock versetzen können, desto größer die Chance, dass es wieder anfängt zu schlagen.
SEENOTRETTER WERDEN?
Sie fahren raus, wenn andere reinkommen – rund um die Uhr, bei jedem Wetter: unsere aktuell rund 1.000 Seenotretter. Um andere Menschen selbst unter widrigsten Bedingungen aus Not und Gefahr zu befreien, brauchen sie genau wie Hauke Janssen-Visser reichlich Erfahrung, Können und Mut. Sie haben Interesse und möchten sich ebenfalls an Bord unserer Rettungseinheiten engagieren?
Die Männer werfen die Leinen los: Mit dem Seenotrettungsboot ERICH KOSCHUBS nehmen sie unter Höchstgeschwindigkeit Kurs auf die Segelyacht, die ihnen entgegenläuft. Unterdessen bereitet Axel Mussehl gemeinsam mit Wolfgang Haltern alles für eine Wiederbelebung vor. Ihnen kommen mindestens ein Dutzend Segelyachten entgegen, da die Yacht mit der leblosen Frau zu einer Regatta gehört. Alle sehen im Dunkeln gleich aus. Damit sie die richtige schnell finden, hat der Skipper das gesamte Licht eingeschaltet. Axel Mussehl erinnert sich: Bereits sieben Minuten nach dem Auslaufen gehen sie längsseits, er selbst und Wolfgang Haltern steigen über. Aus einem Smartphone kommt Musik, die den Rhythmus für die Herzdruckmassage vorgibt. Damit haben der Skipper und eine Mitseglerin unmittelbar nach dem abgesetzten „Mayday“-Ruf begonnen – ein Notfallsanitäter am medizinischen Arbeitsplatz in der Rettungsleitstelle See leitet sie übers Handy an.
Zwei Leben gerettet
Die Seenotretter übernehmen nun die Reanimation. „Trotz der extremen Stresssituation wissen wir genau, was wir tun müssen. In solchen Momenten zahlen sich unsere regelmäßigen Trainings und die ErsteHilfe-Kurse aus“, sagt Axel Mussehl. Er ist beim Einsatz stark fokussiert, nimmt seine Umgebung kaum wahr. Hin und wieder schaut er hoch, will wissen, wo sie sind. Er arbeitet die erlernten, im Gedächtnis abgespeicherten Schemata ohne Nachdenken ab: „Es ist, als würde ein Programm ablaufen.“ Das beeindruckt ihn immer wieder, auch dieses Mal. Genauso wie ruhig und hochprofessionell der Skipper agiert, obwohl es dessen Frau ist, die gerade gegen den Tod kämpft. „Irgendwann hatten wir sie wieder, ihr Puls war wieder da!“, erinnert sich Axel Mussehl.
Als die Notärztin und Notfallsanitäter sowie der als Rettungsassistent ausgebildete freiwillige Seenotretter Christian Grobecker vom Lotsenboot auf die Segelyacht übergestiegen sind, setzen diese die Wiederbelebung fort. Die Rettungskräfte entscheiden gemeinsam, die Patientin wegen ihres weiterhin labilen Zustandes und der geringen Entfernung zum Anleger an Bord zu lassen. Im Hafen übernimmt der Landrettungsdienst die Seglerin und bringt sie ins Krankenhaus. Sie überlebt, auch dank der Seenotretter.
Etwa fünf Monate später ist Axel Mussehl erneut an Bord der ERICH KOSCHUBS, als ein Seemann auf der Fähre „Finnfellow“ offenbar nach einem Herzinfarkt zusammenbricht. Er steigt bei starkem Seegang gemeinsam mit dem freiwilligen Seenotarzt ihrer Station und einem anderen Seenotretter auf das 190 Meter lange Schiff über. An Bord setzen sie die von der Fährbesatzung begonnene Reanimation fort. Sie stabilisieren den Mann, ein Hubschrauber bringt ihn in ein Krankenhaus – er überlebt.
Diese beiden Einsätze spiegeln das Revier der Station Travemünde sehr gut wider: Die freiwilligen Seenotretter sichern die viel befahrene Zufahrt zum dortigen Fährhafen ebenso wie die stark genutzten Wassersportreviere vor der Küste und in den rückwärtigen Flachwassergebieten der Travemündung.
Lebenslang Seenotretter
Fast die Hälfte seines Lebens ist der heute 27-Jährige freiwilliger Rettungsmann in Travemünde. Schon als Jugendlicher steigt Axel Mussehl ein, da kennt er die Arbeit auf der DGzRS-Station schon sehr genau: „Ich bin über meinen Papa reingerutscht. Ich war von klein auf dabei und hatte schon als Kind einen Seenotretter-Overall.“ An der Mündung der Trave ist er aufgewachsen – Strand, Sport und Seenotretter sind fester Teil seiner Freizeit als Kind und Jugendlicher. Er verbringt seine Tage entweder am Meer, beim Handball oder mit seinem Vater am Hafen. Dieser engagiert sich bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2013 ebenfalls auf der Station: Jens Mussehl sorgt dafür, dass die Maschinen der Rettungseinheiten immer reibungslos laufen. Von dem erfahrenen Rettungsmann Joachim Kaschner lernt Axel Mussehl in seinen ersten Jahren genauso wie von den jüngeren Seenotrettern Benjamin Schellschmidt und Patrick Morgenroth, dem jetzigen Vormann der Station, gute Seemannschaft.
„Wir mussten beispielsweise so lange Knoten üben, bis wir sie blind hinter unserem Rücken knüpfen konnten“
... sagt er mit einem Schmunzeln. Von dieser grundlegenden Ausbildung profitiert er noch heute, genauso wie von den verschiedenen Lehrgängen bei der DGzRS. Mittlerweile gibt er mit großer Freude sein angesammeltes Wissen an die nächste Generation weiter – „an die Jungen“, wie er, der selbst noch keine 30 Jahre alt ist, es ausdrückt – und begeistert sie für das freiwillige Engagement für Menschen in Not.
Es ist die starke, unerschütterliche Gemeinschaft auf der Station, die Axel Mussehl besonders an seinem Ehrenamt schätzt. Über die Jahre sind Freundschaften entstanden, die er nicht mehr missen möchte. Das gemeinsame Ziel schweißt zusammen. Und: „Egal, was es für ein Einsatz ist, wir spüren unmittelbar den ehrlichen Dank der Menschen, die wir aus einer Notsituation befreit haben.“ Er hilft gern anderen, ein Grund warum er nach seinem Fachabitur Polizist geworden ist. Und wenn er dann, wie bei den Einsätzen für die Seglerin und den Seemann das Leben anderer retten kann, bestätigt es ihn in seinem Handeln: