Es ist eine der größten Such- und Rettungsmaßnahmen der vergangenen Jahrzehnte, koordiniert von der Rettungsleitstelle See der DGzRS: Am 24. Oktober 2023 stoßen zwei Frachtschiffe auf der Nordsee zusammen. Die „Verity“ sinkt unmittelbar nach der Kollision. Zwei der sieben Besatzungsmitglieder überleben. Die Seenotretter sind von einer Dunkelheit bis zur nächsten ununterbrochen im Einsatz.
Alex Kolesnikov (27) schreckt am frühen Morgen unvermittelt hoch. Sein Laptop ist quer durch die Kammer geschleudert worden. Selbst bei schwerstem Seegang ist das noch nie passiert. Der 2. Steuermann der „Verity“ greift sich eine alte Jacke und eilt auf die Brücke. Mehrere Crewmitglieder sind schon dort. Es herrscht Chaos. Die Brücke ist zum Teil zerstört. Im nächsten Augenblick neigt sich das Schiff auf die Seite. Kolesnikov ist plötzlich unter Wasser, umgeben von Glas- und Metallteilen. Er schluckt Salzwasser, taucht wieder auf – und ist immer noch auf der Brücke. Er fürchtet, mit dem Schiff unterzugehen. Doch er sieht den Ausgang. Sein Überlebenswille ist geweckt. Er hangelt sich nach draußen. Als er versucht, an die Rettungsinsel zu gelangen, sinkt das Schiff immer schneller. Er fürchtet, in den Strudel des Schiffs zu geraten. Zwei Kollegen sind in der Nähe, einer scheint bewusstlos zu sein.
Die „Verity“ verschwindet von den Bildschirmen. Die Verkehrszentrale German Bight Traffic alarmiert die Rettungsleitstelle See, das Maritime Rescue Co-ordination Centre (MRCC) Bremen. Innerhalb weniger Minuten laufen Seenotrettungskreuzer aus. Das MRCC alarmiert per „Mayday Relay“ die umliegende Schifffahrt. Die Schichtleiterin informiert das Havariekommando des Bundes und der Küstenländer. Bei dieser Havarie werden alle verfügbaren Kräfte benötigt. Die „Verity“ (91 Meter, Flagge: Vereinigtes Königreich) war beladen mit Bandstahlrollen auf dem Weg von Bremen nach Immingham. Der Kollisionsgegner „Polesie“ (190 Meter, Flagge: Bahamas) bleibt vor Ort. Der Massengutfrachter ist von Hamburg nach A Coruña unterwegs. Etwa zwölf Seemeilen (22 Kilometer) südwestlich von Helgoland und 17 Seemeilen (31 Kilometer) nordöstlich von Langeoog sind beide kollidiert. Auf der „Polesie“ ist kein großer Schaden entstanden, die 22-köpfige Besatzung ist unverletzt.
18 Stunden lang werden Schiffe und Hubschrauber das von der DGzRS berechnete Suchgebiet durchkämmen. Im Einsatz sind die Seenotrettungskreuzer HERMANN MARWEDE, ANNELIESE KRAMER, BERNHARD GRUBEN, HERMANN RUDOLF MEYER, THEO FISCHER, NIS RANDERS, ERNST MEIER-HEDDE und HAMBURG. Die NIS RANDERS war auf dem Weg in eine Werft. Sie wird mit Seenotrettern nachbesetzt, die sich auf einem Lehrgang in Bremen befinden.
Suche mit rund 25 Schiffen und acht Hubschraubern
Einsatzleiter vor Ort (On-Scene Co-ordinator, OSC) ist die HERMANN MARWEDE. Sie und ein Such- und Rettungshubschrauber der Marine sind als erste vor Ort. Später werden weitere Seenotretter auf die HERMANN MARWEDE eingeflogen, um die Besatzung zu verstärken. MRCC Bremen bindet die Schifffahrt im Seegebiet in die Suche ein: das Kreuzfahrtschiff „Iona“, den Notschlepper „Nordic“, die Zollboote „Emden“ und „Jade“, den Lotsentender „Wangeroog“, das Bundespolizeischiff „Bad Düben“, die Wasserschutzpolizeiboote „Sylt“, „W3“ und „Bürgermeister Weichmann“, das Mehrzweckschiff „Mellum“, die Tonnenleger „Schillig“ und „Nordergründe“, die Mess- und Peilschiffe „Tide“ und „Zenit“ der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung sowie das Vermessungs-, Wracksuch- und Forschungsschiff „Atair“ des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie und ein Taucherschiff. Die HERMANN MARWEDE koordiniert den riesigen Suchverband. In parallelen Streifen fahren die Schiffe gleichmäßig das Suchgebiet ab.
Wie ein großes Ballett wenden die Einheiten, reihen sich wieder ein. Sie suchen unermüdlich, ohne aufzugeben. Die Schiffe rollen unangenehm im Seegang. Die Sicht ist schlecht. Weitere Hubschrauber fliegen ein: vier neue „Sea Lions“ der Marineflieger, zwei „Sea Kings“, ihre Vorgänger, drei der Bundespolizei, einer von NHC, zudem ein Ölüberwachungs- und ein Sensorflächenflugzeug.
Geretteter Schiffbrüchiger an Bord der
HERMANN MARWEDE
Trotz Wind aus Südost mit 30 bis 35 Knoten (acht Beaufort) gelingt es der „Polesie“, einen Schiffbrüchigen aus der aufgewühlten See zu retten. Die Seenotretter versorgen ihn anschließend im Bordhospital der HERMANN MARWEDE. Ein Hubschrauber fliegt ein medizinisches Team der Berufsfeuerwehr Cuxhaven ein. Später wird der Gerettete ins Krankenhaus ausgeflogen.
Das Havariekommando hat die Gesamteinsatzleitung übernommen. Kapitän Michael Ippich aus der DGzRS-Geschäftsführung ist als nationaler SAR-Koordinator im Stab. Die DGzRS ist weiterhin dafür zuständig, die Suche und Rettung zu koordinieren. Mehrfach passen die Fachleute ihrer Rettungsleitstelle See das Suchgebiet an – wegen der Gezeiten, aber auch, weil Wrackteile gesichtet werden. Die „Nordic“ findet den Kapitän der „Verity“. Doch für ihn kommt jede Hilfe zu spät.
Fast zwei Stunden vergehen. Das Wasser ist zwölf Grad kalt. Alex Kolesnikov treibt zwischen Trümmern. Seine Kollegen hat er längst aus den Augen verloren. Er klammert sich an einem Holzteil fest, sieht Schiffe, schreit immer wieder. Es fällt ihm immer schwerer, Krämpfe und Zittern zu unterdrücken. Ununterbrochen redet er mit sich selbst, spricht über Erlebnisse in seinem Leben. Er versucht, sich gut zuzureden. Er ist nicht gläubig, aber schließlich betet er.
Rettung mit letzter Kraft
Dann verliert er den Mut, will nur noch schlafen. Doch er hört einen Hubschrauber. Der fliegt vier Mal nahe vorbei – und verschwindet. Alex Kolesnikov schließt mit dem Leben ab. Doch als der Hubschrauber zurückkehrt, nimmt der Schiffbrüchige seine letzten Kräfte zusammen, winkt mit beiden Händen. Der Suchscheinwerfer ist auf ihn gerichtet. „Wir haben ihn gesehen, weil er eine hellgraue Jacke trug“, sagt der Marinepilot später. Es ist der erste große Einsatz einer „Sea Lion“. Viele Übungen mit den Seenotrettern sind vorausgegangen. Die Marineflieger lassen einen Rettungskorb herunter. Mit letzter Kraft klettert Kolesnikov hinein – an mehr erinnert er sich nicht.
Vier weitere Seeleute werden noch vermisst, als die Suche in der Nacht beendet wird. Es gibt nach menschlichem Ermessen keine Chance mehr, sie lebend zu finden. Sturm und Seegang haben zugenommen. Die „Verity“ liegt in 30 Metern Tiefe – mitten im Seeschifffahrtsweg. Die Behörden richten um das Wrack herum eine Sperrzone ein.
Deutsche Seeschifffahrt
Reedereien: 294
Seeleute: 4.540
Handelsschiffe: 1.839
Ein- und ausgelaufene
Güter- und Passagierschiffe: 107.800
Güterumschlag: 279 Mio. t, davon 106 Mio. t ins Ausland
Größter Gesamtgüterumschlag: 1. Hamburg, 2. Bremerhaven, 3. Wilhelmshaven
Größte Handelsflotten (nach Nationalität des Eigners): 1. Griechenland, 2. China, 3. Japan, 4. Südkorea, 5. Deutschland, 6. Norwegen, 7. Singapur, 8. Hong Kong, 9. USA, 10. Italien
Größte Containerschiffsflotte (nach Nationalität des Eigners): 1. Deutschland, 2. China, 3. Dänemark 4. Griechenland, 5. Japan (2019)
Größte Seefrachtspeditionen weltweit: 1. Kühne+Nagel, 2. DHL 3. DB Schenker (nach Transportmenge 2019)
Flotte der Kutter- und Küstenfischer: rund 1.300 Schiffe und Boote, etwa 300 länger als zwölf Meter, 180 Baumkurrenfahrzeuge
Beschäftigte in der Fischerei: rund 1.100, davon 625 im Haupterwerb
Selbstständige Fischereibetriebe: 646 (alle Fischereizahlen: 2020)
Umsatz in der Personenbeförderung: mehr als 300 Mio. Euro
Beförderte Passagiere: Norddeich 2.302.988, Dagebüll 1.507.826, Emden 1.136.975
Umsatz im Schiffbau: 5,6 Mrd. Euro
Beschäftigte im Schiffbau: 14.507 (inklusive Zulieferer: rund 200.000)
Schiffsverluste weltweit: 38 (geringste Anzahl seit 2005). 20 davon sind gesunken, vier wurden durch Kollision zum Totalverlust. Meiste Verluste: Region China/Indochina/ Indonesien/Philippinen
Quelle: Statistisches Bundesamt, Zahlen für 2022
Viele Gedanken und ein großes Danke
Alex Kolesnikov teilt wenige Tage nach dem Ereignis das Erlebte noch aus dem Krankenhaus seinen Freunden mit. Er schließt mit den Worten: „Ist dies mein zweiter Geburtstag oder eine Gelegenheit, meine Lebenseinstellung zu überdenken? Wahrscheinlich beides. Schutzengel oder unerledigte Aufgabe auf der Erde, Schicksal oder glücklicher Zufall, Lektion oder nur ein Zusammentreffen lächerlicher Umstände? Die Zeit wird es zeigen.“ Wochen später besucht Alex Kolesnikov die Marineflieger und übergibt den Seenotrettern eine Spende. Dass er überlebt hat, verdankt er, wie er annimmt, nicht nur seiner guten Kälteresistenz. „Ich wollte die Jacke eigentlich nicht mehr mit auf See nehmen, der Reißverschluss war kaputt. Aber meine Patentante nähte mir einen neuen ein, also nahm ich sie mit.“ Es ist diese Jacke, die Alex Kolesnikov vom Haken reißt, als die „Verity“ bereits dem Tod geweiht ist. Sie hat ihm das Leben gerettet.