Das Wasser der Nordsee ist von tiefem Dunkelblau, nur hier und da sind Schaumkronen zu sehen. Der Wind ist auf vier Beaufort abgeflaut. Das gleißende Sonnenlicht verursacht tanzende Lichtreflexe auf den Wellen. Es erschwert die Suche. Seenotretter Jörg Reinhardt steht an Deck der THEODOR STORM und sucht mit dem Fernglas die Wasseroberfläche ab. Auf der Brücke des Büsumer Seenotrettungskreuzers tun Olaf und Fabian Burrmann das Gleiche. Seit Stunden suchen sie. Hoffnung haben sie keine mehr.
Es gibt Seenotfälle, bei denen irgendwann die Hoffnung schwindet. Man bereitet sich innerlich darauf vor, dass alles vergeblich sein könnte: die Seenotrettungskreuzer und -boote, die exakt berechnete Muster abfahren; die Hubschrauber, die unermüdlich aus der Höhe das Meer absuchen; die hinzugezogenen Schiffe, die eigentlich längst auf dem Weg in andere Häfen sein wollten. Stunde um Stunde vergeht, doch von See kommen keine neuen Nachrichten.
Am 18. Juli 2018 sind die Seenotrettungskreuzer HERMANN MARWEDE von Helgoland, ANNELIESE KRAMER aus Cuxhaven und THEODOR STORM aus Büsum im Einsatz, dazu das Seenotrettungsboot PAUL NEISSE vom Eiderdamm sowie zwei Hubschrauber, mehrere Behördenschiffe, Fischkutter und ein Marineschiff im Anmarsch. Alle Feuerwehren von Wesselburenerkoog bis Friedrichskoog-Spitze und das Technische Hilfswerk suchen die Deichlinie ab. Der Vogelwärter von Trischen überprüft den Strand seiner unbewohnten Nordseeinsel.
Vermisst wird das Vermessungsschiff „Geo Profiler“. An Bord sind zwei Mann Besatzung, die die Nacht eigentlich in Büsum verbringen wollten. Aber sie sind nicht zurückgekehrt und auch in keinem anderen Hafen angekommen. Das Automatische Identifikationssystem (AIS), das der Schifffahrt unter anderem dazu dient, sich ausweichen zu können, hat das Signal der „Geo Profiler“ zum letzten Mal am Vortag um 17.55 Uhr empfangen – 9,7 Seemeilen westlich von Büsum. Das sind 18 Kilometer vor der Küste. Die Angabe lautet: Geschwindigkeit 0,5 Knoten, Kurs 125 Grad. Seitdem sind mehr als 14 Stunden vergangen.
Bei strahlendem Sonnenschein wird an diesem Tag die gesamte Dithmarscher Küste abgesucht. Um 11.28 Uhr taucht im Einsatzprotokoll der SEENOTLEITUNG BREMEN zum ersten Mal das Wort „Wracksuche“ auf. Vorsorglich wirft die Rettungsleitstelle See der DGzRS zu diesem Zeitpunkt die Frage auf, welche Fahrzeuge eingesetzt werden könnten, um nach einem gesunkenen Schiff zu suchen.
Bislang gibt es keinen einzigen Hinweis darauf, was geschehen sein könnte. Ein treibendes Schiff wäre längst gefunden. Eine Rettungsinsel hätte unter den herrschenden Bedingungen nicht übersehen werden können. Auch ein Wrack könnte Spuren hinterlassen: aufgeschwemmte Teile, Ölflecken auf der Meeresoberfläche. Doch die „Geo Profiler“ scheint spurlos verschwunden zu sein.
Jede Suche wird fortgesetzt, bis nach menschlichem Ermessen – und darüber hinaus – Gesuchte nicht mehr lebend zu finden sind. Doch jetzt schwindet die Hoffnung. Die Temperatur der Nordsee beträgt 18 Grad. Zwar ist in diesem Revier die Wassertemperatur selten so hoch, aber jetzt sind schon mehr als 17 Stunden seit dem letzten AIS-Signal vergangen.
Es besteht immer die Möglichkeit, dass ein Schiff einen Blackout erleidet, Maschine und Elektrik ausfallen. Handys können leer sein. Die Ortung durch die Polizei, die zumindest einen vagen Hinweis darauf geben könnte, dass ein Handy der Vermissten eingeschaltet ist, ergibt nichts. Eine Textnachricht von Kollegen wurde am Abend um 19.18 Uhr nicht mehr zugestellt.
Der Wachgänger in der SEENOTLEITUNG BREMEN lauscht auf den Funk. Aus den Pan-Pan-Nachrichten – Dringlichkeitsmeldungen, mit denen er am Morgen die Schifffahrt über die Suche informiert hat – sind Mayday-Relay-Meldungen geworden. Es geht nicht mehr um die Suche nach einem Schiff, sondern längst um das Leben zweier Menschen.
Die THEODOR STORM sucht inzwischen am Tertius, auch Tertiussand genannt, einer ausgedehnten Sandbank, die fast immer überspült ist. Bei Niedrigwasser jedoch ragt ein bedeutender Teil auf. Dort teilt sich das tiefe Büsumer Fahrwasser in Norderpiep und Süderpiep. Bei Nordweststurm und ablaufendem Wasser steht dort eine enorme Brandung, denn rings um die Sandbank ist es tief. Erst weiter Richtung Küste kommt das Schlickwatt.
„Ehrlich, wir haben gedacht, wir suchen Tote“, sagt Vormann Olaf Burrmann später. Im Laufe der Suche sind Schiffe dort vorbeigekommen. Mit der sich ändernden Tide verändert sich auch der Anblick der Sandbank, die wie eine kleine Hügellandschaft Höhen und Senken hat. Vegetation gibt es nicht. Der nahezu zwei Kilometer lange Tertius besteht aus feinem harten Sand. Seine Kanten sind teils steilgeschliffen vom Tidenstrom, doch auf der Nordseite läuft er sanft aus.
Auf dieser Seite macht Fabian Burrmann plötzlich eine ungewöhnliche Entdeckung: „Da läuft jemand auf dem Tertius!“ sagt er vollkommen verblüfft – und sein Vater denkt für den Bruchteil einer Sekunde: „Wie kann jemand auf dem Tertius sein?“ Und dann klickt es.
Fabian eilt an Deck. Im Fernglas sehen er und Jörg Reinhardt zwei Menschen: Einer trägt eine Rettungsweste. Der zweite schleift einen Rettungsring hinter sich her. Olaf Burrmann gibt „volle Kraft voraus“, fünf Minuten lang, dann stoppt er auf. Reinhardt und Burrmann jr. besetzen das Arbeitsboot NIS PUK und landen an der Sandbank an. Zwei vollkommen erschöpfte und klatschnasse Menschen kommen ihnen entgegen.
Die Begrüßung ist an norddeutscher Trockenheit nicht zu überbieten: „Sucht Ihr die Leute von der ,Geo Profiler‘?“, fragt einer der beiden Männer. – „Ja.“ – „Das sind wir.“
Ihre Geschichte ist so unglaublich wie bewegend: Am frühen Abend kentert ihr Schiff. Einer kann sich noch eine Rettungsweste schnappen, der andere einen Rettungsring. Die Ereignisse treffen sie völlig unerwartet. Ihr Schiff ist weg, die 30 und 54 Jahre alten Männer treiben in der Nordsee. Niemand weiß, dass sie verunglückt sind.
Die Nacht bricht herein. Zum Glück gelingt es den beiden zusammenzubleiben. Sie halten sich gegenseitig wach. Irgendwann spüren sie Boden unter den Füßen, aber erst am frühen Morgen gibt die Nordsee langsam die Sandbank frei, auf der sie angespült worden sind. Die Enttäuschung ist groß, als sie feststellen, dass es keine Verbindung zum Festland gibt. In der Ferne sehen sie Schiffe und hoffen, dass nach ihnen gesucht wird. Aber sie werden nicht bemerkt. Als die Sonne am Vormittag hoch am Himmel steht, beschließen die Männer, einen verzweifelten Versuch zu wagen: Solange Niedrigwasser ist, wollen sie durch die Norderpiep schwimmen, um in den Teil des Watts zu kommen, der eine Anbindung ans Festland hat. Sie fürchten das Kippen der Tide, denn dann wird die Sandbank, auf der sie stehen, wieder in der Nordsee verschwinden. Ihren Versuch müssen sie jedoch sofort aufgeben. Die Strömung ist viel zu stark.
Als die THEODOR STORM die Männer endlich findet und an Bord nimmt, kann keiner fassen, wie fit sie wirken. Erst später wird sich zeigen, wie sehr die Nacht voller Ungewissheit in der kalten Nordsee die beiden gesundheitlich mitgenommen hat.
Olaf Burrmann hat an die SEENOTLEITUNG BREMEN gemeldet: „Wir haben sie!“ Die Suche nach den Männern wird beendet. Das Wrack der „Geo Profiler“ wird später gehoben, nicht zuletzt, um zu untersuchen, wie sich das Unglück ereignet hat.
Der Geschäftsführer der Firma, in dessen Auftrag die geretteten Wilhelmshavener unterwegs waren, meldet sich Wochen später bei der DGzRS. Er und seine Mitarbeiter hatten zu den Seenotrettern nach Büsum fahren wollen, um sich persönlich zu bedanken und eine Spende zu übergeben. Zu dieser Zeit geht es den beiden Geretteten jedoch noch nicht wieder so gut, dass sie arbeiten können. „Wir haben deshalb eine Spende überwiesen“, sagt der Geschäftsführer.
Sie ist fünfstellig.