Letzter DGzRS-Einsatz mit einem Ruderrettungsboot vor 80 Jahren
Heute kann sich kaum jemand vorstellen, mit welchen Strapazen und Gefahren die Einsätze der Seenotretter viele Jahrzehnte lang verbunden gewesen sind: Sie kämpften sich in offenen Ruderrettungsbooten durch die Naturgewalten der See. Der letzte dokumentierte Einsatz eines solchen Bootes der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) gehört gleichzeitig zu den schwersten in ihrer Geschichte. Am 5. März 2022 jährt er sich zum 80. Mal.
Es ist Anfang März 1942. Ein Schneesturm fegt über das Wattenmeer, die Lufttemperatur liegt bei minus 14 Grad Celsius. Seit Wochen herrschen Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Im Wattenmeer und an den Stränden der ostfriesischen Inseln türmen sich die Eisschollen. Die Sicht beträgt weniger als eine Seemeile – kaum 1,8 Kilometer.
Lotsendampfer „Rüstringen“ gerät auf Grund
Am Mittag des 4. März ankert der aus Wilhelmshaven kommende Lotsendampfer „Rüstringen“ vor Wangerooge. An Bord befinden sich 26 Besatzungsmitglieder, darunter der Lotse Hellmuth von Ostheim. Aufgabe der Männer ist es, Kriegs- und Frachtschiffe in die Jade hineinzulotsen. Wie es in dem nach Originalunterlagen und Augenzeugenberichten geschriebenen DGzRS-Büchlein „Im Packeis vor Langeoog“ heißt, verlaufen der Tag und die anschließende Nacht zunächst eigentlich ruhig. Doch dann ändert sich von einer Minute zur anderen die Lage.
Herma von Ostheim, Tochter des oben genannten Lotsen, berichtet: „Es war so: Mein Vater hatte Wache bis 24 Uhr, ist dann in seine Koje gegangen und gegen morgen [des 5. März] hatte er gehört, dass ungewöhnliche Geräusche des Schiffes da waren. Und das kam ihm komisch vor. Er hat sich angezogen und ist auf die Brücke gegangen. Und da hat man gemerkt, dass das Schiff abgetrieben ist.“ Die Ankerkette ist in dem starken Eisgang offenbar unbemerkt von der Besatzung gebrochen.
Weit nach Westen ist die „Rüstringen“ vertrieben – bis vor Langeoog. Die ungewöhnlichen Geräusche, die von Ostheim hört, bedeuten: Das Schiff hat Grundberührung.
Sturm und Tidenstrom drücken den Lotsendampfer auf die gefährlichen Sandbänke vor den Inseln. Der Rumpf der „Rüstringen“ setzt hart auf. Und der Sand ist tückisch. Die in der Fläche steinhart wirkenden Sandbänke werden von Treibsand gebildet – „Mahlsand“, wie die Seeleute sagen.
Unter Druck verhält sich der Mahlsand wie eine schwere, zähe Flüssigkeit. An einigen Stellen schlämmt er den Schiffsrumpf geradezu ein, während an anderen Stellen Hohlräume entstehen. Sie belasten den Rumpf aufs Äußerste. Alle Versuche, wieder freizukommen, scheitern. Und dann ist es zu spät.
„Das Schiff war leckgeschlagen“, erzählt Herma von Ostheim. „Dieses Schiff ist schon einmal repariert worden, aber nur notdürftig mit einem Betonklotz. Und der [hat sich] durch die Grundberührung gelöst. Und das Schiff ist unheimlich schnell dann voll Wasser gelaufen.“
Erster Rettungsversuch mit Ruderrettungsboot
Solange die Maschine noch läuft, lässt der Kapitän SOS senden. Doch durch den Wassereinbruch muss der Heizer bald das Feuer ausmachen. Und mit dem steten Einspülen in den Mahlsand bekommt das Schiff Schlagseite.
Der Kapitän befiehlt daraufhin die Mannschaft auf die Brücke und lässt mit der Signalpistole rote Leuchtpatronen in den Himmel schießen: das Signal für unmittelbare Lebensgefahr. „Die wurden auf Langeoog gesehen“, erinnert sich Herma von Ostheim an die Berichte ihres Vaters, „und man versuchte nun, bei diesem starken Eisgang der ‚Rüstringen‘ zu Hilfe zu kommen, mit dem Rettungsboot von Langeoog.“
Hillrich Kuper, Vormann der Station Langeoog, lässt das Ruderrettungsboot REICHSPOST klarmachen. Die DGzRS hat sowohl hier als auch auf den Nachbarstationen längst Motorrettungsboote stationiert – aber diese können bei dem Eisgang nicht auslaufen. Das Ruderrettungsboot einzusetzen, ist ein verzweifeltes Unterfangen. Das Boot muss durch die Dünen auf die Nordseite der Insel gebracht werden und dann über die Eisschollen ins offene Wasser.
Gemeinsam mit acht Pferden und rund 40 Soldaten gelingt es den Seenotrettern, es auf einem Wagen zum Strand zu bringen. Doch dort angekommen müssen sie feststellen, dass sich das Boot nicht über die aufgetürmten Eisschollen am Strand zu Wasser bringen lässt.
Der Schneesturm aus Osten hat die Küste fest im Griff. Die Rettungsleute sind gezwungen, ihre Bemühungen abzubrechen. Es ist der 5. März, etwa 13 Uhr.
Vorpostenboot „VP 2001“ und Minensuchboot
„M 255“ wollen helfen
Die SOS-Rufe der „Rüstringen“ sind derweil auch anderswo nicht ungehört geblieben. So nehmen die Tonnenleger „Mellum“ und „Mainz“ des Lotsenkommandos von Wilhelmshaven sowie die Motorrettungsboote DANIEL DENKER/DGzRS-Station Helgoland und AUGUST NEBELTHAU/DGzRS-Station Cuxhaven Kurs auf den Havaristen. Aber auch sie schaffen es nicht, durch das Eis vorzudringen.
Gerhard Johannsen war einer der letzten Zeitzeugen der Ereignisse. In jenem März 1942 befindet er sich als Matrose an Bord des Vorpostenboots „VP 2001“. Es ist mit 34 Männern besetzt und begleitet das reparierte Minensuchboot „M 255“ von Rotterdam nach Bremerhaven. Unterwegs müssen die Seeleute ständig Eis abklopfen.
Johannsen erinnert sich an seine Wache auf dem Oberdeck: „Dann war ich da mit den Signalgasten [Matrose, der für die Signalgebung mittels Flaggen und Lampen zuständig ist] zusammen, und da gingen die Wellen über das ganze Schiff rüber. Und wenn wir dann aus dem Wasser rauskamen mit der Schnauze und die Dusche über uns hinwegging, dann beugten wir uns vor und schlugen mit den Eisenstangen gegen die Persenning. Damit das Eis runterging, dass das Boot nicht topplastig wird. Und das haben wir dann drei Stunden gemacht.“
Das Interview mit Gerhard Johannsen haben wir mit ihm 2017 geführt. Wenn Sie an verschiedenen Stellen des Textes ein Play-Symbol entdecken, verbergen sich dahinter die Originalaufnahmen eines der letzten Zeitzeugen dieses Einsatzes. Johannsen schildert eindrücklich die Situation in der er sich befand, mit spannenden Hintergrundinformationen.
Am Morgen des 5. März sichtet der Kommandant der „VP 2001“ im Schneegestöber ein Wrack, das bis zum Bootsdeck unter Wasser liegt – die „Rüstringen“. Für das Vorpostenboot ist sie unerreichbar. Das begleitende Minensuchboot setzt ein Beiboot aus. Anscheinend ist es untermotorisiert für die vorherrschenden Strömungen. Es treibt ab und sinkt.
Der Kommandant der „VP 2001“ lässt wenden. Er befiehlt, mit voller Fahrt Kurs auf das gekenterte Beiboot zu nehmen, um dessen Besatzung zu retten.
Vorpostenboot gerät selbst in Gefahr
„Als meine Wache wieder rum war, […] sah ich, dass wir vier, nein drei Leute [des Beiboots] übernommen hatten“, sagt Johannsen.
„Ein Vierter war untergegangen. Der konnte sich nicht mehr halten […], wie man ihn hochzog.“ Der Rest der Mannschaft wird später vom Minensuchboot aufgenommen.
Nach der Rettungsaktion nimmt die „VP 2001“ den alten Kurs auf. Doch dann kommt auch sie fest. Sämtliche Manöver, das Schiff freizubekommen, misslingen, also wird der Backbordanker geworfen. Kurze Zeit später reißt bei auflaufendem Wasser die Kette.
Um daraufhin den Steuerbordanker werfen zu können, opfert die Mannschaft ihre Mahlzeit. „Unsere schöne warme Brühe, die wir zum Mittag essen wollten, wurde über das Ankerspill gegossen, um das Wassereis aufzutauen“, berichtet Johannsen, „und das mussten wir alles dann losklopfen.“
Da ereilt die Besatzung schon das nächste Unglück: Ein Ventil bricht, Wasser dringt ein. Notdürftig können die Seeleute das Leck abdichten.
Seenotretter nehmen Kurs auf die „VP 2001“
Am Nachmittag klart es ein wenig auf. Vormann Hillrich Kuper berichtete nach dem Einsatz: „Um 15.30 Uhr bekamen wir bessere Sicht und konnten auch die ‚Rüstringen‘ wieder ausmachen. Wir sahen dann etwas westlicher noch ein Schiff mit schwerer Schlagseite liegen.“ Das Vorpostenboot „VP 2001“.
Nun haben die Seenotretter nicht nur einen, sondern zwei Havaristen vor ihrer Küste. Auf beiden Schiffen – auf der „Rüstringen“ und auf der „VP 2001“ – sind die Besatzungen in allergrößter Gefahr.
Inzwischen hat die Ebbe eingesetzt und einen Teil des Eises mit aufs Meer hinausgetrieben. Am nördlichen Strand der Insel starten die Seenotretter einen erneuten Rettungsversuch. „Mit Unterstützung von 40 Soldaten gelang es uns dann auch, das Boot über hohe Eisberge zu Wasser zu bringen“, so Kuper lapidar im Einsatzbericht, der seinerzeit im Jahrbuch der DGzRS veröffentlicht wurde. Kaum vorstellbar ist die Plackerei, die dazu nötig ist.
Die Männer, die an diesem Nachmittag ins Ruderrettungsboot steigen, haben vermutlich eine ungefähre Vorstellung von den Strapazen, die sie erwarten könnten. Dass sie an diesem Tag nicht nach Hause zurückkehren werden, wissen sie jedoch nicht. Viele Namen derer, die damals in die REICHSPOST steigen, um anderen das Leben zu retten, sind noch heute auf Langeoog sehr präsent, ihre Nachfahren leben noch auf der Insel.
Es sind: Erich Bents, Harm Börgmann, Hinrich Eilts, Heinrich Hoffrogge, Hillrich Kuper jr., Johann Kuper, Otto Leiß, Tjard Mannott, Alfred Veith, Heinrich Wilken, Johann Wilken und Heinrich Wissmann.
Die „Rüstringen“ ist unerreichbar. So nehmen die Seenotretter Kurs auf die „VP 2001“. Mit Muskelkraft rudern sie die REICHSPOST zwischen den Eisschollen voran. Gegen 18 Uhr erreichen die Rettungsleute das mit Schlagseite liegende Vorpostenboot und gehen längsseits.
Vormann Kuper steigt über und geht auf die Brücke zum Kommandanten der „VP 2001“.
„Von Mahlsand keine Ahnung“
Für seine Familie hat Gerhard Johannsen später über diese Ereignisse eine Chronik mit dem Titel „Der 5. März 1942“ angefertigt. Er beschreibt darin, wie Vormann Kuper den Kommandanten darüber aufklärt, dass das Vorpostenboot auf Mahlsand gestrandet und nicht mehr zu retten ist.
Auf die Frage, ob Johannsen sich damals der unmittelbaren Lebensgefahr bewusst war, sagt er: „Das wussten wir nicht. Ich wusste das auch nicht. Der Kommandant wusste das nicht. Und vom Mahlsand hatte man keine Ahnung.“
Die Seenotretter übernehmen zwölf Mann von dem Vorpostenboot, darunter die drei Geretteten des Beiboots. Doch damit ist die REICHSPOST schon schwer belastet. So bleibt ein großer Teil der ursprünglich 34-köpfigen Besatzung zurück, auch Gerhard Johannsen.
Kuper kündigt an, so bald wie möglich zurückzukehren und die restlichen Männer zu holen. Was Johannsen und seine Kameraden nicht wissen: Die REICHSPOST wird nicht nochmal zu ihnen gelangen können. Ein banges Warten beginnt.
Vom Mahlsand verschlungen
In der Zwischenzeit spielt sich auf der „Rüstringen“ eine Tragödie ab. Der Mahlsand zieht das Schiff erbarmungslos immer weiter in die Tiefe. Drei Männer retten sich kurzzeitig auf das Vorschiff, wo sie jedoch von der rauen See erfasst und fortgespült werden.
Die meisten Besatzungsmitglieder haben sich auf das Dach des hölzernen Kartenhauses geflüchtet. Plötzlich kracht es in sich zusammen. Fast alle werden ins Meer gerissen.
Lediglich drei Seeleute und der Lotse von Ostheim schaffen es rechtzeitig, sich in eine zweifelhafte Sicherheit zu bringen. „[…] und dann war nur noch die einzige Möglichkeit: in den Schornstein zu klettern“, sagt Herma von Ostheim, die Tochter des Überlebenden. Mit einer Steigleiter gelangen die Männer in den Schlot. Über einen Tag lang werden sie dort – sich am Rand festklammernd – ausharren.
Vorpostenboot kentert
Und auch auf der „VP 2001“ wird die Situation nun kritisch. Weitere Bodenventile brechen. Immer noch tobt der Sturm. Die Temperatur liegt weit unter minus zehn Grad. Gischt friert auf den Wracks. Längst sind die havarierten Schiffe nicht mehr zu retten.
Die REICHSPOST kehrt nicht zurück. Die Männer warten vergeblich.
„Auf einmal fängt das Boot sich an zu heben.“
„Abends hieß es dann ‚alle Mann an Deck‘, auch die Freiwachen, und auch die Maschine“, erinnert sich Johannsen. „Unter dem Signalgast waren wir alle versammelt. Auf einmal fängt das Boot sich an zu heben. Und dann hieß es: ‚alle Mann raus‘. Und als wir raus waren, da kippte das Boot schon zur Seite, und es konnten alle aus dem Bootshaus, aus der Kommandobrücke, raus.“
Die „VP 2001“ bleibt auf der Steuerbordseite liegen. Um sich vor der Kälte zumindest ein wenig zu schützen, verbringt die Mannschaft die Nacht in einem Seitengang auf der Backbordseite.
Die Seeleute müssen trotzdem regelmäßig draußen Wache schieben. Sie wissen ja nicht, ob sich Schiffe nähern, ob es notwendig wird, Signal zu geben, ob die verbleibende Besatzung gewarnt werden muss. Johannsen zieht sich in der stockdunklen Nacht schwere Erfrierungen an den Händen zu.
Mit Rudern und Robben durch das Treibeis
Während die Schiffbrüchigen auf der „Rüstringen“ und der „VP 2001“ durchhalten, kämpft sich die Mannschaft der REICHSPOST durch das Treibeis. Vormann Kuper berichtete: „Wind und Strom waren für uns sehr ungünstig, und es gelang uns vorläufig nicht, von den Sandbänken freizukommen. Da die Lage, in der wir uns befanden, sehr gefährlich war, mussten wir alles daransetzen, hier freizukommen, was uns nach dreieinhalb Stunden schwerer Arbeit bei 12 bis 14 Grad Frost gelang.“
Die Seenotretter erreichen in der Nacht die Mitte des Fahrwassers zwischen Baltrum und Langeoog, sind nun aber vom Treibeis eingeschlossen. Ein Vorankommen aus eigener Kraft ist nicht mehr möglich. Strömung und Eis schieben das Rettungsboot in Richtung des Ostendes von Baltrum, bevor es um Mitternacht zum Stehen kommt.
Eine unfassbare Entscheidung
„Wir befanden uns auf zirka 20 Meter Wassertiefe“, heißt es in Vormann Kupers Bericht weiter. „Da wir bestimmt damit rechnen mussten, in kurzer Zeit wieder mit dem Eis hinauszutreiben, musste der Versuch gemacht werden, den Strand über das zusammengeschobene Treibeis zu erreichen, was uns auch mit Hilfe der Bootsriemen kriechend gelang.“
Es muss eine unfassbare Entscheidung gewesen sein in dieser Nacht. Das Boot verlassen, wohl wissend, dass unter den Eisschollen das Seegatt mit über 20 Metern Tiefe lauert? Hillrich Kuper kennt das Seegatt. Sobald die Tide kippt, die Ebbe wieder einsetzt, wird das Ruderrettungsboot auf die offene See gezogen. Vermutlich sind die Männer an Bord bis über ihre Grenzen erschöpft. Doch Eisschollen der Nordsee sind nicht zu vergleichen mit denen eines Binnensees. Salzwasser lässt es nicht annähernd so gefrieren wie Süßwasser.
Vormann Kuper wagt den Weg über die Schollen, offenbar sich durchaus der Tatsache bewusst, dass dies vermutlich ihre letzte Chance ist, Land zu erreichen. Wie es in „Im Packeis vor Langeoog“ beschrieben ist, meldet sich der leichteste Seenotretter freiwillig, um mit einer Leine über das Treibeis vorauszukriechen. Er schafft es.
Die restlichen Männer robben ebenfalls nacheinander über die Eisschollen. Das wagemutige Vorhaben gelingt. In der stockdunklen Nacht haben sie irgendwann Sand unter den Füßen. Das Ruderrettungsboot lassen sie im Seegatt im Eis zurück. Es ist verloren.
Doch das Ostende der Insel an der Accumer Ee ist nicht Langeoog. Die Seenotretter haben sich auf die Nachbarinsel Baltrum gerettet. Der kleine Ort ist weit entfernt. In der stockdunklen Nacht müssen sich die Männer noch über eine Stunde durch die Dünen schleppen. Nachts um zwei erreichen sie das erste Haus. Es ist „Wietjes Strandhotel“. Dort werden die Verletzten von einer Gemeindeschwester versorgt werden und die Rettungsmänner können sich ausruhen.
Die Rettung naht
Derweil harren die Männer auf dem Vorpostenboot aus. Johannsen schreibt in seiner Chronik: „Als es am nächsten Morgen hell wurde, es war der 6. März 1942, kamen drei Seenotrettungsflieger [der Luftwaffe] in Sicht. Eine Maschine konnte trotz des Treibeises gewassert werden. Dabei lief sie auf Grund. Die Besatzung setzte ein Schlauchboot mit zwei Mann aus, das aber abtrieb. Später wurden sie vom Flugzeug wieder aufgenommen.
Gegen 12.00 Uhr setzte [das Minensuchboot] ‚M 255‘ eine Motorbarkasse aus, die um 12.30 Uhr längsseits unseres gekenterten Bootes kam. Wir sprangen dann etwa drei Meter tief in die sich bewegende Barkasse. Dies erforderte viel Geschicklichkeit, um unversehrt im Boot zu landen. Allen Besatzungsmitgliedern ist dieser Sprung ohne Schaden gelungen. In fünf Minuten waren alle gerettet und um 13 Uhr an Bord von ‚M 255‘ gebracht worden. Dort wurden wir in eine wärmende Koje verfrachtet und durch einen wohltuenden Grog zu neuem Leben erweckt.“
Wenig später, gegen 15 Uhr, kann die gleiche Barkasse zur „Rüstringen“ vordringen und nimmt die vier Überlebenden auf. Alle haben schwere Erfrierungen erlitten, einer der Männer stirbt zwei Tage später im Lazarett. Von Ostheim überlebt.
„Mein Vater hat ungefähr eineinhalb Tage im Schornstein verbracht. Dadurch hat er sehr schwere Erfrierungen erlitten. Ihm sind die Finger von beiden Händen zur Hälfte abgefroren und die Füße auch, die Zehen waren ganz abgefroren“, sagt Herma von Ostheim.
Die Seenotretter und die Geretteten, die auf Baltrum gestrandet sind, nehmen am 6. März während des Niedrigwassers den Fußmarsch durchs Wattenmeer an Land. Auf Schlitten ziehen sie die Verletzten. Noch heute ist Baltrum die einzige der ostfriesischen Inseln, die unter günstigen Bedingungen während einer Tide zu Fuß unter fachkundiger Führung erreicht werden kann.
Auf dem Festland angekommen, müssen die Männer noch weitermarschieren. Ein versprochener Bus ist im Schneesturm nicht durchgekommen. Gegen Mittag werden die Geretteten endlich ins Lazarett gefahren. Die Rettungsleute gehen weiter nach Dornum, fahren mit der Bahn nach Bensersiel und lassen sich dort von einem Dampfer abholen, der sie zu ihrer Heimatinsel und ihren Liebsten zurückbringt.
Auch wenn sie ihn nicht retten konnten, hatte Gerhard Johannsen zeit seines Lebens großen Respekt vor der Leistung der Langeooger Seenotretter: „Erst heute weiß ich, in welch großer Gefahr uns die Rettungsmänner zurücklassen mussten und was es auch für sie bedeutet haben dürfte, nicht zu uns zurückkehren zu können. Der Einsatz der Besatzung der REICHSPOST für unser Boot wiegt umso beachtlicher vor dem Hintergrund, dass die Seenotretter nur wenige Stunden zuvor die nicht minder kräftezehrende stundenlange Rettungsfahrt für die im Eis nicht zu erreichende ‚Rüstringen‘ hatten aufgeben müssen.“
Für diesen schweren Einsatz erhält die gesamte Besatzung der REICHSPOST noch im selben Jahr die Silberne Medaille am Bande. Alle Beteiligten erhalten außerdem die Rettungsmedaille am Bande. Das Ruderrettungsboot wird später geborgen, muss auf Grund zu großer Schäden jedoch außer Dienst gestellt werden. Zwar kann es nach all den Jahren nicht mit Gewissheit verifiziert werden, es wird aber davon ausgegangen, dass es sich hierbei um den letzten Einsatz eines Ruderrettungsboots der DGzRS gehandelt hat.