Überlebensstrategien beim Sturz ins Wasser

Auf See über Bord zu stürzen, ist für jeden Seemann und Wassersportler ein Albtraum. Wie der Körper auf eine solche Ausnahmesituation reagiert und wie ein Schiffbrüchiger sich nach einem Sturz ins Wasser verhalten sollte, um seine Überlebenschance zu erhöhen, erläutert Dr. Jens Kohfahl. Der Facharzt für Allgemein- und Notfallmedizin sowie ärztlicher Fachberater des Havariekommandos ist seit vielen Jahren freiwilliger Seenotarzt der DGzRS in Cuxhaven.

Wer plötzlich in die kalte Nordsee stürzt, schnappt automatisch nach Luft. Woran liegt das?

Ein solcher Sturz ist nicht zu vergleichen mit einem langsamen „Hineingleiten“ oder dem Baden in kaltem Wasser. Darauf bereite ich mich mental vor, auf einen unerwarteten Sturz nicht. Deshalb läuft die erste Reaktion, die sogenannte Kälteschockreaktion, völlig unkontrolliert ab. Der plötzliche Kältereiz auf der Haut führt sofort dazu, dass wir unsere Atmung nicht mehr steuern können, wir fangen an zu hyperventilieren. Wer bei Wärme in der Lage ist, die Luft eine Minute anzuhalten, erlebt nach einem Fall in kaltes Wasser, dass sich diese Zeitspanne auf lediglich zehn Sekunden reduzieren kann.

Wer auf See unterwegs ist, sollte unter allen Umständen eine Rettungsweste tragen.

Dr. Jens Kohfahl

Dr. Jens Kohfahl, Facharzt für Allgemein- und Notfallmedizin und freiwilliger Seenotarzt der DGzRS in Cuxhaven.
Seenotretter bei einer Übung im Wasser vor der MERVI
Foto: Steven Keller

Gilt diese Reaktion ausschließlich für sehr kaltes Wasser?

Nein. Wir reagieren zwar massiver und schneller, je kälter das Wasser ist, aber bei kälteempfindlichen Menschen kommt es schon ab 23 Grad Wassertemperatur zu einer verstärkten Atmung. Ab 15 Grad kommt es sofort zu einem massiven Atemzug, der zwei bis drei Liter Luftvolumen umfassen kann. Während ein Erwachsener im Ruhezustand sechs bis acht Liter Luft pro Minute durch seine Lungen ein- und ausatmet, kann dies bei massiver Kälteschockreaktion im Temperaturbereich zwischen fünf und zehn Grad deutlich mehr als das Zehnfache sein.

Warum ist diese automatische Reaktion so gefährlich?

Die Wasseroberfläche auf See ist meist unruhig: Seegang und die Wellen überspülen immer wieder den Kopf und gelangen in die Atemwege. Es besteht ein hohes Risiko, über die Gischt zu viel Wasser zu inhalieren, bevor wir unsere Atmung wieder kontrollieren können. Bereits ein Viertelliter Flüssigkeit in den Lungen kann die Sauerstoffversorgung des Körpers drastisch reduzieren, eineinhalb Liter Seewasser sind tödlich.

Was passiert beim plötzlichen Eintauchen außerdem im Körper?

Aufgrund des Kältereizes verengen sich die Blutgefäße in der Haut. Zusätzlich wird durch den Wasserdruck auf die im Wasser treibenden Beine mehr Blutvolumen in den Brustkorb verschoben – das Herz muss mehr arbeiten. Die Folge: Puls und Blutdruck steigen kräftig, mitunter sogar krisenhaft an. Bei schon vorliegendem hohem Blutdruck oder auch bei älteren Menschen kann es zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall kommen. Wenn wir über Kopf ins Wasser stürzen, versuchen wir im ersten Augenblick instinktiv die Luft anzuhalten. Bei diesem sogenannten Tauchreflex verlangsamt sich der Puls. Zeitgleich setzt die stressvermittelte Kälteschockreaktion mit Herzrasen ein. Dieser, auch autonomer Konflikt unseres vegetativen Nervensystems genannte Mechanismus, kann zu unmittelbaren und sogar tödlichen Herzrhythmusstörungen führen.

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Worauf sollte man sich einstellen, wenn man die ersten Minuten überstanden hat?

Auf die Kälteschockreaktion folgt das sogenannte Schwimmversagen. Die Ursache ist der Kälteeinfluss auf die Muskulatur in Armen und Beinen. Es fällt zunehmend schwer, aufeinander abgestimmte Schwimmbewegungen zu machen. Im Extremfall sackt der Körper aus einer horizontalen Lage in die Vertikale ab. Das führt zu immer schnelleren, ineffektiveren und unkoordinierten Arm- und Beinbewegungen, schließlich können wir den Kopf nicht mehr über Wasser halten und ertrinken.

Warum ist das so?

Wir funktionieren nur bei einer Körpertemperatur von 37 Grad optimal. Wärmeverlust und Wärmeproduktion müssen ausgeglichen sein – dann sind wir zu Höchstleistungen fähig. Wenn die Umgebungstemperatur fällt, beginnt unser Körper den Wärmeverlust über die Arme und Beine zu drosseln, alles mit dem Ziel, den Körperkern, also das Gehirn und die Organe des Brust- und Bauchraumes, auf 37 Grad zu halten. Nach der Haut kühlen Nerven, Muskulatur sowie die Gelenke der Arme und Beine herunter. Das geschieht vor allem deshalb, weil sie eine große Oberfläche haben und die verengten Blutgefäße der Haut kein Blut mehr zur Wärmeproduktion heranführen. Da aber auch Nerven und Muskeln Blut und Sauerstoff benötigen, um zu funktionieren, wird die Motorik rapide schlechter.

Wie lange kann es ein Mensch im kalten Wasser aushalten?

Es scheint mir nicht hilfreich zu sein, eine Zeitangabe zu machen. Die entscheidenden Größen sind Alter, Kleidung, ob der Schiffbrüchige eine Rettungs- oder zumindest eine Schwimmweste trägt, Wassertemperatur und Gewässerart. Zudem spielen auch individuelle Faktoren wie Fitnesszustand und persönlicher Wille eine Rolle. Gerade die mentale Stärke hat einen sehr großen Einfluss auf das Überleben.

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Welche Tipps haben Sie für den Notfall?

Jeder, der auf See unterwegs ist, sollte unbedingt eine gut sitzende, mit Schrittgurt versehene Rettungsweste tragen. Sie sorgt nach einem Sturz für Auftrieb, hält den Kopf über Wasser und hilft, hektische Schwimmbewegungen in den ersten kritischen Minuten zu vermeiden. Darüber hinaus empfehle ich, die Kleidung der Wasser- und nicht der Lufttemperatur anzupassen. Die von mir favorisierte Kombination besteht aus Funktionswäsche, dann Kälteschutzanzug als „Unterzieher“ und als letzte Schicht die Arbeitskleidung beziehungsweise das Ölzeug. Stürzt ein Wassersportler oder Seemann ohne Kälteschutzbekleidung in kaltes Wasser, sollte er sich in den ersten Minuten so ruhig wie möglich verhalten, um die Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Ist das gelungen, gilt es weiterhin Ruhe zu bewahren und gleichzeitig seine Optionen zu prüfen: Gibt es einen im Wasser treibenden Gegenstand zum Festhalten? Kann der Schiffbrüchige vielleicht sogar aus eigener Kraft das Ufer erreichen? Das muss er sich allerdings sehr gut überlegen: Die Schwimmfähigkeit ist zunehmend eingeschränkt und die in der Kleidung eingeschlossene Luft, die für Restauftrieb sorgen könnte, entweicht durch Schwimmbewegungen. Hinzu kommt: Auch wenn Muskeltätigkeit kurzfristig Wärme produziert, beschleunigt das Schwimmen den Wärmeverlust – wir kühlen schneller aus.

Wie verhalten sich Schiffbrüchige, wenn sie länger im kalten Wasser treiben?

In einem solchen Fall, sollte er sich – so gut wie es geht – treiben lassen, um den Wärmeverlust zu minimieren. Das gelingt jedoch nur, wenn er eine Rettungsweste trägt. Außerdem sollte der Schiffbrüchige versuchen, den Wassereintritt in die Kleidung an Armen und Hals durch Nachziehen der Klettverschlüsse zu minimieren – auf gar keinen Fall darf er Hose oder Jacke ausziehen. Wenn vorhanden: Handschuhe, Mütze und Kapuze überziehen, da viel Wärme über den Kopf verloren geht. Vor allem aber ein Spraycap über den Auftriebskörper der Rettungsweste stülpen. Dann noch den Rücken gegen Wind und See drehen, um sich vor Wasserinhalation zu schützen. Wenn der Schiffbrüchige einen Überlebensanzug trägt, sollte er etwa alle 30 Minuten für fünf Minuten Wassertreten machen, um Wärme durch Muskeltätigkeit zu produzieren, die sich für eine gewisse Zeit im Anzug hält. Auf diese Weise kühlt der Körper langsamer aus. Und zu guter Letzt: Man sollte niemals die Hoffnung aufgeben. Der Überlebenswille kann ganz entscheidend zu einer erfolgreichen Rettung auch nach nicht für möglich gehaltenen Zeitspannen beitragen.

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Rettungstechnik

Sturz in kaltes Wasser

Gefahr durch Ertrinken nach Sturz in kaltes (< 15 C) bzw. sehr kaltes (< 10 C) Wasser (ohne Kälteschutzbekleidung, ohne Rettungsweste)

Alle Zeitangaben sind lediglich eine grobe Orientierungshilfe

Quelle: International Maritime Organization. Pocket guide to cold water survival. 4. Aufl. London; 2012, Golden F, Tipton MJ. Essentials of Sea Survival. Champaign: Human Kinetics; 2002

Das Überleben auf See hängt von vielen individuell verschiedenen Faktoren ab. Es sind Fälle bekannt, in denen Schiffbrüchige mitunter weit außerhalb der hier angegebenen Werte gerettet wurden und überlebt haben.

Dr. Jens Kohfahl

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