Ohne das Team der hauseigenen Seenotretter-Werft wären die Einsätze auf Nord- und Ostsee nicht möglich
Hinter einem großen grauen Rolltor auf dem Gelände der Seenotretter-Zentrale in Bremen sorgen 17 Menschen mit viel Fachkenntnis, Können und Engagement dafür, dass die Seenotrettungskreuzer und -boote der DGzRS im Durchschnitt 30 Jahre lang auf Nord- und Ostsee rausfahren können. Die Facharbeiter der hauseigenen Werft legen mit größter Sorgfalt Hand an die Flotte. Denn sie wissen: Im Notfall verlassen sich die Besatzungen auf die von ihnen gewarteten Rettungseinheiten.
Ein silberner, spiralförmiger Span löst sich von einem drehenden Aluminiumrohr. Er sieht aus wie eine zu klein geratene und verfärbte Spirelli-Nudel. Einige von ihnen liegen bereits in einer Wanne unterhalb des Maschinenbettes. Tim Pawlowski blickt hochkonzentriert auf den Meißel, der ein Innengewinde in die Metallstange ritzt. Dabei kommt es auf äußerste Präzision an: Der Feinwerkmechaniker kann die Drehmaschine auf einen tausendstel Millimeter genau einstellen. Heute fertigt der 29-Jährige einige Halterungen für die Antennen auf dem Tochterboot des Seenotrettungskreuzers BERNHARD GRUBEN.
Dort setzt gerade sein Kollege Christian Teloy den Schlagschrauber auf die Mutter, mit der das Handruder auf einem Bolzen befestigt ist. Ein kurzes Klackern und Surren, schon ist die Schraubenmutter gelöst. Der Schlosser nimmt das hölzerne, vom Salzwasser angefressene Rad ab und legt es auf den Boden des Tochterbootes JOHNANN FIDI. Auf diesem hat vermutlich auch schon einmal sein Vater Uwe Teloy gestanden, der viele Jahrzehnte bei den Seenotrettern geschraubt, gebohrt und gehämmert hat.
„Als er in Rente gegangen ist, habe ich von ihm quasi die Werkbank übernommen“, sagt der 38-Jährige mit einem Schmunzeln. Und schiebt hinterher: „Es ist ein schönes Gefühl, wenn die Arbeit ein Stück weit in der Familie bleibt. Gleichzeitig ist es für mich eine Herausforderung. Denn mein Vater ist ein sehr guter Handwerker.“ Und wie Uwe Teloy ist sein Sohn Christian ebenfalls einige Jahre als Seenotretter raus auf Nord- und Ostsee gefahren. Bei Schietwetter mit „’nem bisschen Wind“ genauso wie bei „Ententeich“ – wenn sich die See nicht mehr zu bewegen scheint. Wertvolle Erfahrungen hat er als Maschinist an Bord gesammelt. Doch Ende 2018 zieht es ihn wieder an Land, zurück an die Werkbank.
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Solche familiären Verbindungen hat Tim Pawlowski nicht. „Ich wollte nach meinem Schulabschluss unbedingt einen handwerklichen Beruf erlernen und meine Arbeitskraft für einen sinnvollen Zweck einsetzen“, sagt der 29-Jährige. Während er erzählt, spannt er gerade das nächste Aluminiumrohr in das Backenfutter der Drehspindel ein.
Er wird auf die Seenotretter aufmerksam und ihre hauseigene Werft. Die Mischung aus erforderlicher Fingerfertigkeit und sozialer Verantwortung deckt sich mit seinen Vorstellungen an seinen zukünftigen Beruf. 2010 fängt er in der Werft eine Lehre zum Feinwerkmechaniker an – mehr als zehn Jahre später steht er weiterhin begeistert und mit großem Elan in der Werkstatt.
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Einige Jahre mehr auf seinem Seenotretter-Buckel hat Stefan Neundorfer: Er hält seit 1987 in der Werft am Bremer Oberländer Hafen Seenotrettungskreuzer und -boote instand. Gerade ist der Maschinenschlosser an Bord der BERNHARD GRUBEN und nimmt an einem Brückenfenster Maß. Oberhalb davon will er die Halterung für die neuen Hochleistungs-Scheibenwischer befestigen. Dafür muss er mit einem Zollstock zunächst den Punkt für die Bohrung bestimmen, schließlich soll das Wischbild später optimal sein. „Bisher waren hier Drehscheiben eingebaut, die fliegen raus“, sagt der 55-Jährige.
Wer sich mit Stefan Neundorfer unterhält, genau hinhört, wenn er von seiner täglichen Arbeit erzählt, merkt schnell, wie sehr sie ihn selbst nach fast 35 Jahren noch reizt: „Nichts hier ist von der Stange. Alles an Bord ist auf die jeweilige Besatzung zugeschnitten, damit sie ihre besondere Aufgabe bestmöglich erledigen kann. Um die speziellen Anforderungen zu erfüllen, müssen wir kreativ nach individuellen Lösungen suchen. Das macht mir unheimlich viel Spaß und ist gleichzeitig herausfordernd.“
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Während Neundorfer erzählt, kommt sein Kollege Karsten Gäckle für einen fachlichen Austausch hinzu und nickt zustimmend: „Mir geht es genauso. Unsere Arbeit ist einfach sehr abwechslungsreich und wird nie langweilig. Hinzu kommt: Wir sind eine große Familie, ein tolles Team, alles läuft Hand in Hand. Das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Gewerken in der Halle, den Rettungsstationen und der Inspektion klappt reibungslos“, sagt der Elektriker. Der 36-Jährige ist seit 2007 bei den Seenotrettern und leitet die Funkwerkstatt.
Doch egal welche Position die 17 Handwerker innehaben, jeder von ihnen trägt eine sehr große Verantwortung. Fehler können sie sich nicht erlauben: „Es muss alles perfekt sein und immer funktionieren. Schließlich fahren unsere Besatzungen bei jedem Wetter raus und müssen sich im Ernstfall auf ihre Ausrüstung, ihre Schiffe verlassen können“, betont Karsten Gäckle. Kompromisse machen sie deshalb nicht. Dieser überaus hohe Anspruch an ihre Arbeit liegt sicherlich auch darin begründet, dass sie sich mit ihr sehr stark identifizieren. Im Gespräch kommen Stefan Neundorfer und Karsten Gäckle genauso wie ihre Kollegen früher oder später auf den humanitären Aspekt ihres Handelns. Er ist ihnen enorm wichtig, er treibt sie zusätzlich an.
„Es muss alles perfekt sein und immer funktionieren. Schließlich fahren unsere Besatzungen bei jedem Wetter raus und müssen sich im Ernstfall auf ihre Ausrüstung, ihre Schiffe verlassen können."
Karsten Gäckle, Elektriker
Inzwischen hat Tim Pawlowski in weitere Stangen ein Innengewinde eingekerbt. Sie liegen nebeneinander wenige Schritte entfernt auf einer Werkbank. Jetzt ist das letzte Rohr an der Reihe: Er schaltet die kleine, schwarze Klemmlampe ein, mit der er seinen Arbeitsbereich ausleuchtet, klappt den Drehfutterschutz herunter und startet die Drehmaschine.
Ein surrendes Geräusch erklingt, als die Arbeitsspindel mit der Stange in der Mitte anfängt zu rotieren. Langsam führt der Feinwerkmechaniker von rechts den Schlitten mit dem eingespannten Meißel heran, der nach den vorher eingestellten Werten eine wendelartig verlaufende Vertiefung in die Stange dreht. Wieder sammeln sich in einer Wanne die herunterfallenden, spiralförmigen Metallspäne, die Tim Pawlowski später in eine Mülltonne schütten wird – und nicht in eine Pasta-Tüte.
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Die Seenotretter verfügen auf dem Gelände ihrer Zentrale in Bremen über eine hauseigene Werft. Dort werden viele Einheiten der Rettungsflotte turnusgemäß generalüberholt, erhalten neue Ausrüstungsteile oder werden sogar umgebaut. 17 exzellente Fachleute vom Motorenspezialisten über Funkelektroniker bis zum Aluminiumtischler sind dort fest angestellt. Die Crews der Seenotrettungskreuzer arbeiten während der Werftzeiten mit an ihren Schiffen. Sie wohnen währenddessen an Land in Besatzungsunterkünften direkt neben der Werfthalle. Das hat viele Vorteile: Sie kennen ihr eigenes Schiff am besten und sind besonders motiviert bei der Sache, denn nichts macht einen Seenotretter ungeduldiger, als wenn das eigene Schiff hoch und trocken an Land liegt und nicht einsatzbereit auf der angestammten Station.
Die Werft der Seenotretter ist 1952 gebaut worden – zu einer Zeit, als das Einsatzgebiet der DGzRS in Travemünde zu Ende und Deutschland noch politisch geteilt war. 1990 hat sich der Zuständigkeitsbereich der DGzRS wieder um rund ein Drittel vergrößert (im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor), und die Seenotretter sind auf ihre angestammten Stationen in Mecklenburg-Vorpommern zurückgekehrt. Statt 37 Rettungseinheiten sind heute 60 im Einsatz. Entsprechend mehr Wartungsaufwand ist für ihre Flotte nötig. Deshalb laufen heute einige Rettungseinheiten zur turnusgemäßen Generalüberholung auch verschiedene Werften an der Küste an – je nachdem, welche Arbeiten ausgeführt werden müssen. Für sie gilt ebenfalls: Die fest angestellten Besatzungsmitglieder versehen während der Werftzeit aus den oben genannten Gründen ganz normal weiter ihren Dienst und arbeiten mit.
Mit der regelmäßigen Wartung ihrer Einheiten stellt die DGzRS sicher, dass sie auf den Stationen ständig einsatzbereit sind und die Technik im Ernstfall zuverlässig funktioniert – bei jedem Wetter, rund um die Uhr. Dies ist für die Sicherheit der rund 800 freiwilligen und 180 fest angestellten Seenotretter bei ihren oft gefahrvollen Einsätzen unerlässlich.
Zur Vertretung während der Werftzeiten unterhält die DGzRS zwei Seenotrettungskreuzer und mehrere Seenotrettungsboote ohne feste Station, die als Springer auf wechselnden Stationen zum Einsatz kommen.