„Diese Momente neben dem dunklen Schiff, ohne zu wissen, ob nicht doch noch einer schwer verletzt drin liegt, das ist mit die schlimmste Erinnerung, die ich habe.“
Hinrich Pick, Steuermann der „Atlantis“, die die führerlos treibende ADOLPH BERMPOHL fand
1967 verunglückte die ADOLPH BERMPOHL im Orkaneinsatz vor Helgoland – Drei Fischer und vier Seenotretter blieben auf See
Jeder Seenotretter weiß: Kein Einsatz ist frei von Risiken. Jede noch so moderne Technik kann den unvorstellbaren Gewalten der See unterliegen. Der Öffentlichkeit schmerzlich bewusst wurde dies 1995, als zwei Rettungsmänner der ALFRIED KRUPP ums Leben kamen, und beim Unglück der ADOLPH BERMPOHL 1967.
Damals verloren drei zuvor gerettete niederländische Fischer und vier deutsche Seenotretter ihr Leben. 50 Jahre später kann nur noch Wilma Landman davon erzählen, die Witwe des Kutterkapitäns Jakob Vos.
Die 71-Jährige streicht im Hafen von Termunterzijl über das Namensschild des Schiffes, auf dem sie ihren Ehemann damals in Sicherheit wähnte. Die Seenotretter haben die Originalschilder der ADOLPH BERMPOHL und ihres Tochterbootes VEGESACK an den Ort gebracht, an den Jakobs Kutter nie zurückkehren konnte. Die „Burgemeester van Kampen“ geriet am 23. Februar 1967 im Orkan vor Helgoland in Seenot. Zwar retteten die vier Männer der ADOLPH BERMPOHL die drei Fischer. Doch vor der Rückkehr in den sicheren Hafen kamen alle sieben ums Leben.
Den ganzen Sommer 1967 hat Wilma Vos, so hieß sie damals, selbst gedichtete Verse über das Unglück in Leinen gestickt. So trauerte sie um ihren Jakob (28) und kämpfte gegen die Einsamkeit der Abende. Nebenan schliefen Jakobus (2) und der nur sechs Wochen vor dem Unglück geborene Geert. „Vor den Kindern habe ich nie geweint – beim Sticken umso mehr.“
In ihrem frisch bezogenen Haus hatte die junge Familie bis dahin ein zufriedenes Leben geführt. Die 1960 gebaute 18 Meter lange „Burgemeester van Kampen“, Fischereizeichen TM 1, war Termunterzijls größter und modernster Kutter. „Jakob hatte das Ruder 1963 von seinem Vater übernommen. Er sollte bald Miteigner werden“, erinnert sich die gelernte Krankenschwester.
Das Unglück zog Wilma den Boden unter den Füßen weg – und ebenso den Familien der Fischer Schelto Westerhuis (27) aus Bierum und Rommert Bijma (32) aus ’t Zandt sowie den Angehörigen der Seenotretter Vormann Paul Denker (54) und Hans-Jürgen Kratschke (27) von Helgoland und Otto Schülke (53) und Günter Kuchenbecker (38) aus Büsum.
„Wilma, wenn ich mal nicht mehr zurückkomme …“
An die Wochen vor dem Unglück hat Wilma genaue Erinnerungen. Als Weihnachten 1966 Geert zur Welt kam, baute Jakob gerade auf der TM 1 einen zweiten Funkhörer unter Deck ein – „falls das Ruderhaus mal voll Wasser steht“, sagte er. Anfang Februar 1967 hielt er einmal plötzlich inne: „Wilma, wenn ich mal nicht mehr zurückkomme ...“ – „Hast Du eine andere?“, fragte Wilma halb entsetzt, halb scherzend. – „Wilma, mit Dir, das ist für immer! Gerade deshalb hör mir gut zu: Ich habe begonnen, für eine Rente einzuzahlen ...“
Nach schwerem Sturm der vorangegangenen Tage fischte die TM 1 in der Nacht zum 23. Februar nördlich von Helgoland. Niemand konnte die Schnelligkeit vorhersehen, mit der der Orkan, der 80 Menschenleben kosten sollte und später Adolph-Bermpohl-Orkan genannt wurde, heraufzog. Schon am Morgen wehte es wieder mit sieben Beaufort, am Vormittag mit zehn. Am Nachmittag wurden auf Helgoland mehr als 80 Knoten (149,5 km/h) Wind registriert. Die stärksten Böen waren nicht mehr zu messen, die Werte für „Orkan“ (117 km/h) längst überschritten.
Sieben DGzRS-Einheiten waren an diesem Tag im Einsatz. Die jüngste, die erst vor 16 Monaten in Dienst gestellte ADOLPH BERMPOHL, nahm bei sieben Metern Seegang um 14.40 Uhr Kurs auf einen 45 Seemeilen vor Helgoland havarierten Kutter – bei diesem Wetter beileibe kein Spaziergang.
„Burgemeester van Kampen“ funkt „Mayday“
Um 16.14 Uhr funkte auch Jakob Vos mit der TM 1 acht Seemeilen nördlich von Helgoland „Mayday“ (unmittelbare Lebensgefahr). Durch das zerschlagene Backbordfenster des Ruderhauses drang viel Wasser ein. Der Kutter lag mit Maschinenproblemen dwars, also quer zur See. Da sich die Lage auf dem anderen Kutter etwas entspannt hatte, lief die ADOLPH BERMPOHL nun zur TM 1. Um 17.13 Uhr fand sie sie fünf Seemeilen nordnordöstlich von Helgoland.
Der Funkverkehr zwischen der Küstenfunkstelle Norddeich Radio, der ADOLPH BERMPOHL und der TM 1 war im Orkan stark gestört. Dennoch war schnell klar: Jakob Vos und seine Besatzung mussten den Kutter aufgeben. Um die erschöpften Schiffbrüchigen zu retten, blieb nur ein Weg: Die Seenotretter setzten das Tochterboot VEGESACK aus. Sie riefen die Fischer auf, vorsichtig zu sein und Rettungswesten anzulegen. Dann herrschte vierzig Minuten lang Stille im Funk, bis die ADOLPH BERMPOHL ruhig meldete: drei Fischer gerettet, VEGESACK läuft getrennt nach Helgoland, Seenotfall „Burgemeester van Kampen“ aufgehoben.
Den Funkverkehr hörten auch die Fischer in Termunterzijl mit. „Jakobs Vater kam und sagte: ,Das Schiff ist verloren, aber die Jungs sind gerettet.‘ Ich wollte am nächsten Tag nach Wilhelmshaven fahren, um sie von der Helgoland-Fähre abzuholen“, erinnert sich Wilma. Tatsächlich deutete im aufgezeichneten Funkverkehr nichts auf das Unheil hin, dass der ADOLPH BERMPOHL bevorstand, im Gegenteil: Die erfahrenen Rettungsmänner meisterten die Lage in der fürchterlich tosenden See mit beeindruckender, unerschütterlicher Ruhe.
Vermutlich war die Verfassung von Jakob Vos, Schelto Westerhuis und Rommert Bijma derart schlecht, dass die Seenotretter es wagen mussten, sie entgegen der ursprünglichen Absicht von der VEGESACK auf die ADOLPH BERMPOHL zu übernehmen. Nur auf dem Seenotrettungskreuzer selbst war eine Versorgung in geheizten Räumen möglich.
Der niederländische Autor Hans Beukema hat Ende 2016 das Buch „De ramp met de TM 1 en Adolph Bermpohl“ veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe („Das Drama“) ist exklusiv im seenotretter-shop.de erhältlich (14,50 Euro, inkl. 1 Euro Spendenanteil).
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Die Borduhren bleiben um 19 Uhr stehen
Wohl um mit den unterkühlten und erschöpften Fischern schnell Helgoland zu erreichen, wählten die Seenotretter die gefährlichere Nordeinfahrt zwischen Insel und Düne. Vielleicht zwang sie auch der nächste Notruf des Frachters „Ruhr“ südlich von Helgoland zur Eile. Gegen 18.45 Uhr sichteten die Helgoländer Leuchtturmwärter für einen kurzen Moment Positionslichter eines Schiffes in der Nordeinfahrt. Sie verschwanden plötzlich.
Auf dem gefährlichen Sellebrunn-Riff nördlich von Helgoland muss eine Grundsee mit der verheerenden Gewalt einiger hundert Tonnen Wasser plus der Bewegungsenergie der anlaufenden See über die ADOLPH BERMPOHL zusammengebrochen sein. Ölstände im Maschinenraum belegten: Sie warf das Schiff um 90 Grad auf die Seite, riss wohl die Männer in die Tiefe und begrub das sich nähernde oder bereits längsseits liegende Tochterboot unter dem Seenotrettungskreuzer. Beide Borduhren blieben zur gleichen Zeit stehen – um 19 Uhr. Von der furchtbaren Gewalt des Seeschlags zeugten die Schäden an den später menschenleer geborgenen Schiffen.
ADOLPH BERMPOHL antwortet nicht
Die Küstenfunkstellen riefen die ADOLPH BERMPOHL ununterbrochen. Es kam keine Antwort mehr. In der Morgendämmerung begannen DGzRS-Einheiten, Handelsschiffe, Hubschrauber und Flugzeuge die Suche. Die Besatzung des Helgoland-Versorgers „Atlantis“ sichtete den auf ebenem Kiel treibenden Seenotrettungskreuzer gegen 9 Uhr rund 13 Seemeilen südlich von Helgoland. Die Seitenmaschinen liefen ausgekuppelt, an Steuerbord hingen Kletternetze. Beides sind Belege für das Längsseits-Manöver. Die Schotten waren geschlossen, der Mast geknickt, die Aufbauten verformt, aber dicht, der Boden des oberen Fahrstands durchgebogen. Und selbst die Reling, die dem Wasser wenig Angriffsfläche bietet, war auf mehrere Meter weggerissen.
Knall- und Dauerschallsignale blieben ohne Reaktion. Steuermann der „Atlantis“ war der 25-jährige Hinrich Pick, der später freiwilliger Seenotretter wurde: „Diese Momente neben dem dunklen Schiff, ohne zu wissen, ob nicht doch noch einer schwer verletzt drin liegt, das ist mit die schlimmste Erinnerung, die ich habe.“ Die ARWED EMMINGHAUS schleppte ihr Geister-Schwesterschiff nach Cuxhaven. Ein Frachter fand am nächsten Tag das kieloben treibende Tochterboot.
Erst als Wilma am Morgen des 24. Februar nach Wilhelmshaven aufbrechen wollte, erfuhr sie, dass Jakob und seine Kollegen vermisst wurden. „Seltsam war das, jeder im Dorf wusste schon, was los war. Aber jeder hoffte, nicht selbst Bote der Unglücksnachricht sein zu müssen.“ Jakobs Leichnam wurde am 6. März an der dänischen Westküste nahe Esbjerg gefunden. Wilma wurde am Tag nach der Beerdigung 22 Jahre alt.
„Papa, komm zurück!“
In den Wochen und Monaten nach dem Unglück rief der zweijährige Jakobus am Hafen von Termunterzijl wie stets, wenn sein Vater auf See und der Liegeplatz der TM 1 leer war, fröhlich laut und vernehmlich: „Papa, komm zurück!“ Die Leute aus dem Ort hatten früher gelächelt. Jetzt konnte niemand, der den Jungen rufen hörte, die Tränen zurückhalten.
Im Juli 1967 reiste Wilma mit Rommert Bijmas Witwe Elfie nach Helgoland, um die Hinterbliebenen der Seenotretter zu besuchen. Sie fuhr mit der reparierten ADOLPH BERMPOHL zu der Stelle, an der die TM 1 in Seenot geraten war.
Wilma und Elfie waren noch auf Helgoland, als ein Kutter nördlich der Insel den Leichnam von Vormann Paul Denker fand. „Wir haben Blumen bestellt und sind abgereist. Noch ein Begräbnis hätte ich nicht ausgehalten.“
Zwei Jahre lang keinen Fisch
Zwei Jahre lang aß Wilma keinen Fisch. Erst allmählich normalisierte sich ihr junges Leben. Nachbar Derk Landman wurde über die Jahre Stütze, Freund und schließlich Partner. „Dicky hat mich wieder zum Lachen gebracht“, sagt Wilma. Das Jawort gab sie ihm aber erst rund 25 Jahre später. „Er hat mir stets viel Raum für Jakob gelassen. Ich hatte zwei wunderbare Männer.“ Derk starb vor 14 Jahren.
Die Seeamtsverhandlung zur Untersuchung des Unglücks stellte fest, der Zustand der gefundenen ADOLPH BERMPOHL und ihres Tochterbootes beweise, dass den erfahrenen Seenotrettern kein Vorwurf zu machen ist. Die Rettungseinheiten seien außergewöhnlichsten Beanspruchungen gewachsen, aber: „Hier war die Natur gewaltiger als der Mensch.“
Erst 2012 wurde das Wrack der „Burgemeester van Kampen“ gefunden, aber nicht gehoben. Taucher brachten Wilma den Funkhörer, mit dem Jakob Kontakt mit der ADOLPH BERMPOHL gehalten hatte. Vor ein paar Monaten wurde in Termunterzijl ein Denkmal für alle auf See gebliebenen Fischer aufgestellt. Darauf sind auch die Namen der vier deutschen Seenotretter zu lesen.
Nur fünf der sieben Seeleute wurden nach dem Unglück gefunden, zwei hat die See behalten. Schelto Westerhuis wurde am Tag nach der Katastrophe auf der Nordsee geborgen, er hinterließ eine Verlobte. Jakob Vos wurde am 6. März an der Küste von Esbjerg gefunden, er hinterließ Wilma und die beiden Söhne. Rommert Bijma blieb vermisst, er hinterließ Frau und Kind.
Günter Kuchenbecker wurde Mitte Juni auf der Nordsee geborgen, er hinterließ seine Verlobte und ein Kind aus erster Ehe. Otto Schülke wurde am 10. Juli nahe Helgoland geborgen, er hinterließ Frau und Kind. Paul Denker wurde am 27. Juli auf der Nordsee geborgen, er hinterließ Frau und Kind. Hans-Jürgen Kratschke blieb vermisst. Er hinterließ Frau und zwei Kinder.
Mit dem Schicksal der ADOLPH-BERMPOHL-Besatzung erinnern sich die Seenotretter an alle 45 Rettungsmänner, die in den 152 Jahren des Bestehens der DGzRS im Einsatz auf See geblieben sind.