Spandowerhagen bei Greifswald hat nur knapp 200 Einwohner. Sechs sind Vorleute der Seenotretter.
Ein Fischerdörfchen an der Ostsee nahe der Insel Usedom, mehr als 700 Jahre alt und mit reicher Seenotretter-Geschichte, obwohl es nie DGzRS-Station war: Das Kopfsteinpflaster der alten Dorfstraße von Spandowerhagen, Gemeinde Kröslin, östlich von Greifswald, säumen Bäume und Häuser, reetgedeckt, aus altem Backstein oder weiß getüncht. Der Himmel ist blaugefegt vom Ostseewind. Das Grün der Wiesen reicht bis ans seichte Wasser, wo Eltern ihre Kinder gern planschen lassen. Nur knapp 200 Menschen wohnen in Spandowerhagen – unter ihnen sechs Vorleute der Seenotretter.
Die Mauer ist gerade erst offen, als die Seenotretter bereits ein erstes Boot am Greifswalder Bodden stationieren wollen. Endlich. „Wir alle, die täglich rausfahren mussten, die gesamte Bevölkerung war froh, dass die DGzRS kam“, sagt Karl-Heinz Schumacher (80). Der damals 49 Jahre alte Fischer aus Spandowerhagen erinnert sich noch genau an den Moment, als ihn 1989 der Hafenkapitän von Wolgast fragte: „Schaffst du es, eine Freiwilligen-Mannschaft auf die Beine zu stellen?“ Er hat den Richtigen gefragt. Schumacher, ein Kommunikator, voller Motivation und Ideen, braucht nicht lange, um zwölf Seenotretter für die DGzRS zu gewinnen: die Besatzung von vier Kuttern. Die Fischer wählen ihn zum Vormann. Die Freiwilligenstation Freest ist geboren.
Die Fischer aus Spandowerhagen und aus dem Nachbardorf Freest an der Peenemündung – auch nur etwa 550 Einwohner – hatten alle schon gefährliche Situationen auf See erlebt. Zu jener Zeit war der Funk nicht sehr zuverlässig, die Wetterberichte oft ungenau. Schumacher wurde einmal auf dem Kutter weit draußen vor Polen vom Weststurm überrascht: „Wir schafften es mit Ach und Krach in den Hafen. Der Sturm hatte alles an Deck kaputtgeschlagen.“
Die DGzRS brachte den Krösliner Fischerfamilien mehr Sicherheit auf See – und sicherte einigen Fischern durch Festanstellungen die Existenz. Die Wende hatte vielen die Schiffsplanken unter den Füßen weggezogen. „Mit der Fischerei ging damals ja alles durcheinander“, erinnert sich Schumacher. Die Fischer mussten sich an Fangquoten und neue Regularien halten. Ein Kutter, der zuvor drei Familien ernährt hatte, brachte jetzt noch genug für eine oder zwei Familien.
Sofort einsatzbereit
Schumachers Blick fällt durchs Fenster zur Straße. Gegenüber wohnt Hartmut Trademann. Der 63-jährige ist Vormann der Station Greifswalder Oie, sein Nachfolger auf dem Posten. Beim Blick durchs andere Fenster schaut Schumacher ins Haus eines weiteren Vormanns, des der Station Sassnitz. Das ist sein Sohn Andreas (53). Er führt den zweitgrößten Seenotrettungskreuzer der DGzRS, die HARRO KOEBKE mit elf Mann Stammbesatzung.
Auch Horst Pagel (80) wohnt im Dorf. 25 Jahre lang war er Vormann der Freiwilligen in Freest. Er ist auch heute noch Hafenmeister dort: „Ich konnte meinen Beruf und die freiwillige Arbeit immer gut verbinden.“ Wenn ein Notruf reinkam, war Pagel sofort am Seenotrettungsboot: an der MÖVENORT, später an der WALTHER MÜLLER und schließlich an der HEINZ ORTH. Die Boote wechselten, das Urgestein Pagel blieb.
Auch die beiden Spandowerhagener Fischer Hartmut Goose (66) und Thomas Brauns (52) führten die Station. Neben ihren Betrieben – der Kutter, dazu Imbisse – konnten sie nur knapp die nötige Zeit dafür aufbringen. Sie sprangen trotzdem jeder für ein, zwei Jahre ein und „hielten den Laden am Laufen“, zuletzt bis 2019 ein Freiwilliger gefunden war, der mehr Zeit mitbrachte: Henry Schönrock (42) – ausnahmsweise nicht aus Spandowerhagen, sondern aus Freest.
Sehnsucht nach der See
Zurück ins Jahr 1990: Auf der kleinen Insel Greifswalder Oie erinnert eine halb verfallene Hütte am Strand an die Anfänge der Seenotretter mehr als 100 Jahre zuvor. „Darin stand früher das Ruderrettungsboot. Mit dem sind die Familien der Oie rausgefahren“, weiß Karl-Heinz Schumacher. Schon damals gehörten auch Frauen zur Besatzung. Ein Stück weiter landeinwärts steht ein größeres Gebäude. Die Nationale Volksarmee der DDR hat es genutzt. Die DGzRS plant 1990, dort eine Station mit fest angestellten Seenotrettern ins Leben zu rufen.
Seinerzeit zieht es junge Leute in die Ferne. Karl-Heinz’ Sohn Andreas Schumacher, der sich etwa zwei Jahre lang als Freiwilliger in Freest engagiert hat, ist einer von ihnen. Als Rohrschlosser geht er auf Montage. Später ziehen ihn die Sehnsucht nach der Heimat, nach der See und der Seefahrt zurück an die Ostsee. Vor 23 Jahren heuert er bei der DGzRS in Sassnitz an. Doch damals, nach der Wende, fürchtet die Familie um ihre Existenz.
Im Revier zu Hause
Sein Vater erinnert sich: „Ich habe meinen Mut zusammengenommen und in Bremen nach einer Festanstellung gefragt.“ Er ist damals schon 50 Jahre alt. Ein Seenotretter muss schnell sein und stark, findet er selbst. War er noch fit genug? Ja. Er bekam den Job auf der Oie, zunächst als 2. Vormann. „Nach 36 Jahren als Fischer bringt man ja einige Erfahrung mit“, sagt er. Von diesem reichen Schatz profitieren seine Kollegen noch heute.
Die Fischer haben ein unübertroffenes Wissen über den Greifswalder Bodden, ein schwieriges Revier voller Untiefen, mit riffartiger Boddenrandschwelle im Übergang zur Ostsee und Riffen am Ufer, die bei auflandigem Wind gefährlich werden. „Wir Fischerjungs sind quasi auf dem Wasser groß geworden“, sagt Karl-Heinz Schumacher. „Als Neunjähriger bekam ich von meinem Großvater meine erste Jolle. Mit der bin ich auf dem Bodden gesegelt.“ Sein Sohn Andreas erinnert sich an Flöße, die sie als Kinder gemeinsam bauten und aufs Wasser setzen. Hartmut Goose fuhr schon als Zwölfjähriger auf dem Kutter mit raus zum Fischen: „Meine Onkel versteckten mich vor den Grenzkontrollen, denn eigentlich war es nicht erlaubt, noch jemanden mit über die DDR-Grenze auf See zu nehmen.“
Die Fischer navigieren damals ohne elektronische Raffinessen. Während längerer Fahrten haben sie tagelang keine Funkverbindung mit dem Land. Sie peilen Landmarken an, loten die Wassertiefe und berechnen so ihren Standort.
Rettungsschuppen wiederhergerichtet
Als Schumacher, Trademann und ihre Kollegen 1990 auf der Oie die Tür des alten Rettungsschuppens aufstoßen, fallen ihnen Baumaterialien, Schrottteile, Kalk und Unrat entgegen. Der DDR-Seenotrettungskreuzer STOLTERA, vormals Station Warnemünde, liegt am Anleger. Auf ihm wohnen die Männer und fahren raus, um Menschen zu retten. Daneben richten sie den Rettungsschuppen wieder her, in monatelanger harter Arbeit.
Heute leben die Seenotretter auf der Oie in einem gepflegten Häuschen und fahren ihre Einsätze mit der BERTHOLD BEITZ. Sie hat keine Kammern mehr, sondern ist ein mit modernster Technik vollgestopftes reines Einsatzschiff. Die unermüdliche Arbeit der Wegbereiter von damals und der Festangestellten von heute lohnt sich: „Die Station läuft wirklich sehr gut“, findet Karl-Heinz Schumacher.
Alle packen mit an
Als die DGzRS nach der Wende am Greifswalder Bodden ihre Stationen wiederaufbauen will, findet sie in Spandowerhagen Menschen, die zusammenhalten und anpacken können. Zu DDR-Zeiten fühlten sie sich in dem kleinen Dorf häufig auf sich gestellt – und machten dann eben selbst, was „die da oben“ nicht hinkriegten. Mitte der 1970er Jahre hoben sie gemeinsam den Graben für eine Wasserleitung ins Dorf aus – bis dahin waren Brunnen und Plumpsklos alltäglich.
Einige Jahre später hatte ein Schneesturm das Dorf unter weißen Massen begraben. Gemeinsam schaufelten die Bewohner ihr Dorf tagelang frei, auch den Bus, der auf der Zubringerstraße versunken war. Und ebenso gemeinsam hatten sie zur Wendezeit Satellitenanlagen an die Häuser gebaut, um Westfernsehen zu empfangen.
„Früher wusste wohl jeder so ziemlich alles über jeden“, sinniert Andreas Schumacher. Zu DDR-Zeiten durften keine neuen Häuser in Spandowerhagen gebaut werden, wegen des nahegelegenen Kernkraftwerks Lubmin. Die Anzahl der Familien war überschaubar. Die Alten hatten noch zusammen die Bank der Schule im Dorf gedrückt, die es längst nicht mehr gibt.
Unglücke bleiben im Kopf
Die Seenotretter, die Vorleute, die die Last der Verantwortung tragen, finden Halt im Dorf. Übern Gartenzaun oder beim Kaffee besprechen sie, wie es läuft auf Station, fachsimpeln über Technik und Einsätze. Untereinander können sie Erinnerungen an schwierige Erlebnisse verarbeiten. Geht es um Leben und Tod, belastet das auch diese wetterharten Männer, die vieles wegstecken. „Da muss drüber gesprochen werden“, sagt Andreas Schumacher, selbst eher ein Mann karger Worte: „Wir reden nicht viel. Aber wenn, dann offen.“
Am schlimmsten war der Untergang der Fähre „Jan Heweliusz“ im Januar 1993 vor Rügen im Orkan. Karl-Heinz Schumacher erinnert sich an das Schiff kieloben, leere Rettungsboote, treibende Rettungswesten. „Wir haben Menschen rausgezogen, da war kein Leben mehr drin. Das geht nicht weg aus der Erinnerung.“ Mehr hat er nur Tagebüchern und seiner Frau anvertraut.
Das Dorfleben hat sich verändert in Spandowerhagen. Junge Familien bauten neue Häuser, es spielen wieder Kinder auf den Straßen. Feste, nicht zuletzt der Tag der Seenotretter, erhalten die Gemeinschaft. Fast jede Familie im Dorf setzt sich für die Seenotretter ein. Karl-Heinz Schumacher, der Mann, der zwei Stationen der Seenotretter am Greifswalder Bodden mit aufgebaut hat, ist 2020 im Mai 80 Jahre alt geworden: „Ich bin mitten im Geschehen.“
Aktualisierung:
Horst Pagel ist am 3. August 2024 auf seine letzte große Reise gegangen. Er wurde 86 Jahre alt. Dieser Text ist auch eine Würdigung seiner großen Verdienste für die DGzRS.