Rasmus nimmt keine Rücksicht auf christliche Feiertage – Weihnachten an Bord bei den Seenotrettern
Diese Weihnachtsgeschichte steht in keinem Geschichtenbuch. Sie hat wenig von der heimeligen Stimmung des Christfestes. Ihre Hauptdarsteller sind das Meer und die Einsamkeit. Es geht um Menschen, die es bei jedem Wetter mit der See aufnehmen – besonders in der rauen Jahreszeit und auch dann, wenn andere bei Kerzenschein in der warmen Stube sitzen.
Dienst an Weihnachten ist für die Seenotretter nichts Besonderes, sondern professionelle Routine. Die Besatzungen gehen an den Feiertagen ihren ganz normalen Wachtörn – im Advent, an Heiligabend und den Weihnachtsfeiertagen, zu Silvester und Neujahr. Das gilt genauso für diejenigen, die Dienst in der von der DGzRS betriebenen deutschen Rettungsleitstelle See, dem Maritime Rescue Co-ordination Centre (MRCC) Bremen, haben. Von dort aus werden sämtliche Such- und Rettungsmaßnahmen zwischen Borkum und Usedom koordiniert.
An Bord der Seenotrettungskreuzer steht hier und da ein kleiner Weihnachtsbaum in der Messe oder wird im Masttop vom Wintersturm geschüttelt – gut befestigt, denn: „Du weißt nie, was der nächste Einsatz bringt.“ Immer wieder, das bestätigt der Blick in die Einsatzberichte, werden die Besatzungen der 60 Seenotrettungskreuzer und -boote ausgerechnet dann zum Einsatz gerufen, wenn gerade die Kerzen angezündet wurden und einige Augenblicke der Besinnung und Nachdenklichkeit zu ungewohnter Stille an Bord führen. Wäre da nicht das Rauschen und Knacken der Funkgeräte …
Der Welthandel kennt keine Feiertage
Rasmus nimmt keine Rücksicht auf christliche Feiertage, heißt es an Bord der Rettungseinheiten. „Wir sind stets auf den nächsten Einsatz vorbereitet. Irgendwer ist da draußen immer unterwegs. Die Häfen machen zu Weihnachten nur ein paar Stunden Pause“, sagt Holger Wolpers, Vormann auf dem Seenotrettungskreuzer ANNELIESE KRAMER der Station Cuxhaven. Weil der Welthandel keine Feiertage kennt, sind die Seenotretter zu Weihnachten wie an jedem anderen Tag im Jahr auf ihrem Posten, wenn das „Mayday“ reinkommt. „Wir kommen“ – Schiffbrüchige können sich dieser beruhigenden Antwort über Funk auch an den Feiertagen sicher sein, rund um die Uhr, bei jedem Wetter.
Auch an Weihnachten machen die Seenotretter Kontrollfahrten, warten und pflegen ihre Schiffe. Der 14-tägliche Rhythmus, in dem Kolleginnen und Kollegen übers Jahr so regelmäßig wie Ebbe und Flut zur Ablösung kommen, ist zum Jahresende jedoch ausgesetzt: Wer Weihnachten an Bord verbringt, ist über den Jahreswechsel zu Hause – und umgekehrt. „Es wäre natürlich schön, an den Festtagen bei meiner Familie sein zu können. Aber sie kennt es nicht anders“, sagt Holger Wolpers. Der Weihnachtsdienst auf der ANNELIESE KRAMER gehört für ihn einfach dazu. So verbringt der Vormann die Feiertage im Kreis seiner „zweiten Familie“. Seenotretter wie er klagen nicht über diesen Dienst. Sie sind vielmehr stolz darauf, für eine private, unabhängige Organisation hinauszufahren, getragen allein von vielen Menschen aus dem gesamten Land, die sie mit Spenden unterstützen, ganz bewusst ohne Steuergelder und ohne staatlichen Einfluss.
„Im Einsatzfall ist die Zuverlässigkeit der Technik unsere Lebensversicherung.“
Vormann Heiko Erdwiens, Station Norderney
Weihnachtsabend fern der Heimat
Viele Seenotretter waren Weihnachten schon oft noch viel weiter weg von zu Hause. Die meisten sind zur See gefahren, bevor sie bei „der Gesellschaft“, wie die DGzRS an der Küste kurz genannt wird, angeheuert haben. Oft trennten sie dann Monate von der Heimat, vom Kuss ihrer Liebsten und von ihren Kindern. Holger Wolpers hat Weihnachten schon mal fern der Küste auf dem Indischen Ozean erlebt, sein Schiff lag in der Hafenstadt Rijeka am Adriatischen Meer oder war nur wenige Seemeilen von der portugiesischen Hauptstadt Lissabon entfernt, als aus dem Heiligen Abend die Weihnachtsnacht wurde.
Auf der ANNELIESE KRAMER hat Vormann Holger Wolpers als Smutje zu Weihnachten schon einmal in der festlich geschmückten Messe den Kollegen seinen „Rinderfiletauflauf à la Ex-Schwiegermutter in spe“ serviert: „Ein Edelmenü, dass notfalls aber auch für mehrere Tage reicht – man weiß ja nie, was kommt.“ Im Seenotretter-Kochbuch gibt es im Übrigen Rezepte von Bord der Rettungseinheiten, praktisch und sehr schmackhaft. Denn Essen hält bekanntlich Leib und Seele zusammen, erst recht zum Fest.
Apropos „man weiß nie, was kommt“: Das muss nicht immer eine große, mutige Tat in schwerer See sein. Auch Christkinder haben die Seenotretter schon auf die Welt geholt. „Helfen zu können ist eine tolle Sache. Das Schönste an einer Rettung ist die eigene innere Zufriedenheit“, sagt Vormann Holger Wolpers. Die Seenotretter selbst verlieren über ihre Leistungen selten Worte. Genau deshalb steht diese Weihnachtsgeschichte in keinem Geschichtenbuch.
Besonderer Seenotretter-Gruß zum 4. Advent: Exaktes Navigieren zur Suche und Rettung Schiffbrüchiger will gelernt sein und muss ständig geübt werden. Zwei Freiwillige haben für die Besatzung des Seenotrettungskreuzers FRITZ KNACK/Station Olpenitz dieses besondere Training in der Weihnachtszeit ausgearbeitet.
Weihnachtslogbuch
Einsätze zu Weihnachten und über den Jahreswechsel sind für die Seenotretter keine Seltenheit, das zeigt der Blick in die Logbücher aus fast 160 Jahren Geschichte der DGzRS.
2021
Gleich zwei Mal sind die Seenotretter an Heiligabend auf der Nordsee im Einsatz. Sie bergen einen verletzten Lotsen von seinem Stationsschiff weit draußen in der Wesermündung ab und holen einen erkrankten Matrosen von Bord eines auf Reede liegenden Frachters.
2001
Ein Kleinflugzeug stürzt vor Bremerhaven in die Wesermündung. Das Wasser ist drei Grad kalt. Zwei Seenotrettungskreuzer suchen im Schneetreiben nach der Besatzung. Sie können nur eine Frau retten.
1999
Ein Seenotrettungsboot befreit in der Schleimündung ein 20 Meter langes Segelschiff aus einem Eisfeld. Vor Amrum zieht ein Seenotrettungskreuzer eine festgefahrene Fähre in tieferes Wasser. Vor Sylt schleppen die Seenotretter einen niederländischen Fischkutter in den Hafen.
1997
Der Cuxhavener Seenotrettungskreuzer birgt bei kabbeliger See in der Elbmündung ein krankes Kind von einem russischen Frachter ab. Weihnachten muss der Junge im Krankenhaus verbringen.
1995
Der Hooksieler Seenotrettungskreuzer läuft durch dichten Nebel zu einem brennenden Fischkutter. Sechs Menschen sind an Bord, Gasflaschen drohen zu explodieren. Ein Großtanker nähert sich. Der Kutter treibt manövrierunfähig auf eine Ölpier zu. Im letzten Augenblick stellen die Seenotretter eine Schleppverbindung her und löschen den Brand.
1995
In der Neujahrsnacht gerät der Borkumer Seenotrettungskreuzer in 15 Meter hohe Grundseen, dreht sich einmal um die eigene Längsachse. Zwei der vier Retter verlieren ihr Leben und bleiben auf See.
1992
Vor Borkum holen die Seenotretter zwei Wattwanderer aus dem Wasser. Bei schlechter Sicht waren sie hinausgelaufen. Als die Hilfe eintrifft, stehen sie bereits bis zum Hals im Wasser.
1984
Zwei Seenotrettungskreuzer bekämpfen stundenlang immer wieder auflodernde Brände auf einem Frachter. Ein Schiffbrüchiger kommt ums Leben, die restliche Crew wird gerettet, Umweltschäden verhindert.
1968 Der Frachter „Njandoma“ strandet vor Cuxhaven. Bei Windstärke 8, gefährlichen Grundseen, Schneeböen und klirrender Kälte holen die Seenotretter in zwei Anläufen 24 Seeleute von Bord.
1949
Vor Norderney läuft ein Schleppdampfer auf Grund. Unter widrigsten Umständen bergen die Seenotretter die 14-köpfige Besatzung.
1880
Das Horumersieler Ruderrettungsboot rettet zwei Männer, die von einem Segelschiff ins Wasser gefallen waren. Die Rettungstat dauert über 24 Stunden. Die See wirft sieben der acht Retter selbst ins Wasser. Sie hangeln sich wieder ins Boot. Der Vormann berichtet: „Eine mühevollere und gefährlichere Fahrt ist wohl noch nicht gemacht worden.“