Mitunter entwickeln Seenotretter ganz unerwartete Fähigkeiten, um Menschenleben zu retten. Vormann Hartmut Trademann (63) ist seit 29 Jahren Seenotretter, verbringt im Dienst seine Nächte neben dem Lautsprecher des Funkgeräts und schläft – bis der Funk zum Einsatz ruft. „Wenn ich ‚BERTHOLD BEITZ‘ höre, bin ich sofort wach“, sagt der erfahrene Seemann. Der Name des Seenotrettungskreuzers lässt seine innere Alarmglocke läuten. Meistens wacht er schon auf, wenn sich etwas zusammenbraut im Revier um die kleine Ostseeinsel Greifswalder Oie. Verirrte Funksprüche aus Polen und belanglose Nachrichten der allgemeinen Seefahrt filtert der Schlaf weg. „So machen wir das alle hier auf der Station. Wenn wirklich mal einer zu tief schläft, wecken die anderen ihn.“
In Spandowerhagen, mit Ostseesand zwischen den Zehen und Wind im Haar, ist Hartmut Trademann aufgewachsen. Das Revier um die Oie kennt er „auch ohne Karte ganz gut“, sagt er bescheiden. „Dort habe ich schon als kleiner Bengel mit meinem Großvater gefischt.“ Später wurde er Maschinist, arbeitete mit seinen zwei Onkeln auf dem Kutter. Dann kam die Wende. „Es gab neue Regeln und Vorgaben. Wir hatten ganz gut von der Fischerei gelebt, doch plötzlich war nichts mehr sicher.“ Ob der Kutter weiter die Familie würde ernähren können?
Als die DGzRS ihre seit Jahrzehnten verwaiste Rettungsstation auf der Oie wieder übernahm, suchten die Seenotretter einen weiteren Mann. „Innerhalb einer Nacht habe ich mich entschieden“, erinnert sich Trademann. Im ersten Jahr dachte er noch wehmütig zurück an die Fischerei. „Aber wenn ich etwas mache, dann richtig.“ Inzwischen ist er seit 17 Jahren Vormann und leitet das heute siebenköpfige Team.
Mit dem Seenotrettungskreuzer BERTHOLD BEITZ rettet Hartmut Trademann und seine Crew Schiffbrüchigen das Leben.
Adrenalin im Blut
Gemeinsam mit zwei weiteren Seenotrettern bewohnt er jeweils im Zwei-Wochen-Turnus ein einzelnes gelbes Haus auf der Oie: vier Schlafkammern, drei davon ausgestattet mit den Lautsprechern des Funkgeräts, zwei Bäder, Küche. Im Wohnraum stehen das Funkgerät und die technische Ausstattung, im Hof ein Fischräucherofen. Drumherum Wiesen, Bäume, Wind. Am Anleger im Nothafen, etwa 250 Meter entfernt, liegt die 20 Meter lange BERTHOLD BEITZ vertäut, ein reines Einsatzschiff ohne Kammern zum Übernachten, allzeit bereit, mit 1.675 PS in See zu stechen.
Einmal pro Woche fahren die Seenotretter damit rüber zum Festland, zum Schichtwechsel und Vorräte auffüllen. Oft gehen sie auf Kontrollfahrt rund um die Insel, bis nach Rügen und zur polnischen Grenze. Ansonsten sind die Männer allein auf der wohl einsamsten Station der DGzRS.
Das schweißt zusammen, zehn Jahre liegt der letzte Personalwechsel zurück. „Den Jungs gefällt es hier“, sagt Trademann zufrieden. Die Stimmung ist gelassen fokussiert, jeder kennt seine Aufgaben, ob im Einsatz an Bord oder an Land. Täglich prüfen die Männer das Schiff, alle paar Tage fahren sie das Revier ab. Auch Haus und Garten halten die Seeleute in Schuss. Viel Schnack braucht es da nicht. „Die Hecke muss geschnitten werden.“ – „Jo. Mach du ma. Dann mach ich das Mittagessen.“
Auf der Insel die einsame Seenotretter-WG, der durchgetaktete Tagesablauf, auf der See das Adrenalin im Blut bei rund 40 Einsätzen im Jahr. Zu Hause auf dem Festland in Spandowerhagen dann ein ganz anderes Leben: Dort hat Hartmut Trademann Zeit für seine Freundin, für Sport und Reisen und auch für die Tochter in Berlin und die kleine Enkelin. Der Zwei-Wochen-Arbeitsrhythmus passt gut zu seinem aktiven Lebensstil, findet er.
Bereits vor sieben Jahren hätte Trademann in Seemannsrente gehen können. Das ist bis heute kein Thema für ihn: „Es erfüllt mich, Menschen zu helfen.“ Den Geretteten in die Augen zu schauen und zu wissen: Man hat Wertvolles vollbracht. Eine Yacht war bereits voll Wasser gelaufen, als Hartmut Trademann und seine Kollegen sie erreichten, Besatzung und Boot retteten: „Die Frau an Bord weinte vor Erleichterung, und ich sah die Dankbarkeit in ihren Augen. ‚Ohne Euch wären wir nicht mehr da‘, sagte sie. Ein Menschenleben gerettet zu haben, das ist ein erhabenes Gefühl.“