Es ist einer dieser nass-kalten Januar-Tage, an denen sich über Fehmarn eine graue Wolkenmasse hält und sich der Regen ausdauernd auf die „Sonneninsel“ ergießt. Linus Erdmann sitzt glücklicherweise in seinem Büro im Warmen. Der 26-jährige amtierende Deutsche Meister im Freestyle spricht über seinen unbändigen Ehrgeiz, den Reiz am Kiten, seine ersten Stehversuche auf dem Kiteboard und über sein Ehrenamt als neuer DGzRS-Botschafter.
Du bist Kitesurfprofi: Was reizt Dich nach wie vor an diesem Sport?
Mich fasziniert, dass ein kleiner Drachen und ein flaches Brett ausreichen, um mich vom Wind über das Wasser schieben zu lassen. Dabei kann ich jederzeit aus dem Stand mühelos und ohne großen Kraftaufwand so hoch wie sonst nur auf einem Trampolin springen. Dann fliege ich für einen kurzen Moment wie mit einem Gleitschirm und lande anschließend wie mit einem Wasserflugzeug. Das alles ist ungemein reizvoll. Kiten ist einfach ein irrer Sport, bei dem ich alles um mich herum vergesse. Ich bewege mich in einer komplett anderen Welt, in der ich sehr konzentriert, fokussiert sein muss – es ist fast wie Meditation.
Kannst Du Dich noch an das Gefühl beim ersten Mal auf dem Board erinnern?
Auf jeden Fall. Ich war damals neun und sofort süchtig. Wir standen im südspanischen Tarifa an der Straße von Gibraltar und ich habe meinen Vater angebettelt, endlich einmal kiten zu dürfen. Bis dahin hatte ich die grundlegenden Dinge fleißig am Strand geübt, mich vom Wind hin- und herziehen lassen. Dazu muss man wissen: Mitte der 2000er-Jahre war Kitesurfen aufgrund fehlender, heute aber üblicher Sicherheitssysteme weitaus gefährlicher. Dennoch ließ mich mein Vater raus auf See.
Es scheint, als ob Dein Vater nicht ganz unschuldig an Deinem heutigen Beruf ist.
Mein Vater hat seine Leidenschaft für Brettsportarten an mich weitergegeben. Wakeboarden, Snowboarden, Windsurfen, Skateboarden und Kitesurfen, ich stand schon als kleiner Pöks auf den unterschiedlichsten Brettern. Mein Vater hat mich immer unterstützt. Jedes windige Wochenende sind wir von Hamburg nach St. Peter Ording oder Fehmarn gefahren. Familienurlaube verbrachten wir an Kitespots in den Niederlanden oder Frankreich. Und zu Hause übte ich mit der Lenkstange im Kinderzimmer und auf dem Trampolin im Garten die Bewegungsabläufe.
Dein Traum ist dann schon bald wahr geworden: Bereits 2009 hast Du erstmals an einer Deutschen Meisterschaft teilgenommen. Wie kam es dazu?
Ein Jahr zuvor hatte ich mir als Drittplatzierter beim „Junior-Pro-Camp“ eine „Wildcard“ für die Deutschen Meisterschaften gesichert. Mit zwölf Jahren war ich einer der jüngsten Teilnehmer. Unter Druck habe ich besonders viel gelernt. Es machte mir von Beginn an Spaß, mich mit anderen zu messen. Mittlerweile kann ich dank meiner Sponsoren und anderer Aktivitäten wie Feriencamps für Jugendliche von dem Sport leben.
Was sind die bisher prägendsten Momente Deiner Karriere?
Auf jeden Fall mein erster nationaler Titel 2012: Der Gewinn der Deutschen Meisterschaft im Freestyle war ein riesiger Erfolg und hat mich sehr, sehr glücklich gemacht. Einen besonders schönen Moment habe ich im Südatlantik vor Kapstadt erlebt: Im Sonnenuntergang kiteten wir mit Blick auf die Stadt, als unter uns im tiefblauen Wasser plötzlich ein Schwarm Mondfische auftauchte und uns ein Stück begleitete.
Wo liegen Deine Lieblingsspots?
In Deutschland im Westen Fehmarns. Dort gibt es die besten Bedingungen für Freestyle. Vor der Küste ist das Wasser stehtief und die See oft relativ glatt, mit wenig Welle. International befinden sich die allerbesten Spots im Nordosten Brasiliens, nördlich von Fortaleza vor der Küste des ehemaligen Fischerdorfes Cumbuco. Dort sind die Voraussetzungen für meinen Sport fantastisch, nicht ohne Grund kommen einige der weltbesten Kiter aus Brasilien.
Wie bereitest Du Dich auf die nächste Fahrt vor?
Ich schaue mir sehr genau die Wettervorhersage mit seinen Parametern aus Wind, Niederschlag und Temperatur an, informiere mich über die Strömungsverhältnisse. Danach stelle ich meine Ausrüstung zusammen. Am Strand prüfe ich, ob die Verhältnisse vor Ort zur Vorhersage passen. Erst danach wähle ich Kite und Board aus, kontrolliere alles sehr akribisch. Anschließend ziehe ich meinen Neoprenanzug und meine Sicherheitsausrüstung an, mache ein paar Dehnungs- und Aufwärmübungen. Und dann geht’s los.
Welche Tipps hast Du für Freizeit-Kiter?
Kiter sollten immer mindestens zu zweit sein. Allein schon, um den Drachen zu starten, ist eine zusätzliche Hand ungemein hilfreich. Gerät man in Schwierigkeiten, kann jemand Hilfe holen. Vor jedem Start sollten Kiter ihre gesamte Ausrüstung prüfen, um mögliche Defekte und Fehler auszuschließen. Ist die Lenkstange, die Bar korrekt belegt? Sind alle Leinen fest verknüpft? Funktioniert der Quick Release, mit der man den Drachen auf Knopfdruck von der Bar lösen kann? Ist die sogenannte Kite-Leash, also die Sicherheitsleine fest mit der Lenkstange verbunden? Sich immer bestmöglich vorzubereiten und alle Sicherheitsaspekte im Blick zu haben, ist für Hobby-Kiter genauso wichtig wie für Profisportler. Dazu zählt auch, sich über das jeweilige Revier zu informieren und niemals bei ablandigem Wind auf See hinauszugehen. Und auf dem Wasser muss man unbedingt die Abstands- und Vorfahrtsregeln einhalten, allein schon aus Eigenschutz.
Läuft doch mal etwas schief, sind die Seenotretter da. Warst Du auch schon einmal auf ihre Hilfe angewiesen?
Glücklicherweise bin ich erst einmal in eine schwierige Situation geraten: Vor Sansibar war ich jenseits eines Riffs etwa zwei Kilometer vor dem Archipel unterwegs, als der Wind abflaute und mein Kite abstürzte. In der Brandung wollte und wollte der Drachen nicht wieder hochgehen. In einer Bö gelang es schließlich. Ich war total erleichtert und erreichte aus eigener Kraft den Strand. Wichtig in einer solchen Situation: Ruhig bleiben, nicht in Panik geraten und die Nerven bewahren. Meine Frau Lonia erlebte ähnliches einmal auf der Kieler Förde und war dabei auf die Hilfe der Seenotretter angewiesen.
Wann bist Du den Seenotrettern das erste Mal begegnet?
Die Sammelschiffchen kenne ich aus meiner Kindheit. Das erste Mal näher mit den Seenotrettern beschäftigt habe ich mich nach dem Einsatz für meine Frau. Da wurde mir bewusst, wie wichtig sie auch für uns Kiter sind. Von da an habe ich die auffälligen Rettungseinheiten in den Häfen und vor den Küsten erst so richtig wahrgenommen. Es ist sehr beruhigend zu wissen, dass die Seenotretter auf See für alle gleichermaßen da sind und niemanden alleinlassen. Mit ihren Schiffen sorgen sie bereits von weitem für ein sicheres Gefühl. Sie erinnern uns aber auch daran, dass es da draußen immer Risiken geben wird, die größer und stärker als der Mensch sind. Die Seenotretter sind einfach eine tolle Gemeinschaft, die seit vielen Jahrzehnten großen Zuspruch bekommt. Das beeindruckt mich. Letztlich trägt jeder mit seiner Spende dazu bei, dass das Leben auf See sicherer wird.
Worin siehst Du Deine Hauptaufgabe als Botschafter?
Ich möchte das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Seenotretter es sind, die bei jedem Wetter rausfahren, um andere zu retten, auch uns Kitesurfer. Denn trotz größter Umsicht und bester Vorbereitung kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren. Kitesurfen ist ein sehr sicherer Sport, wenn man weiß, was man tut. Deshalb ist mir Prävention wichtig und jeder sollte die Kitesticker sowie die SafeTrx-App und -Watch der Seenotretter kennen, mit der man selbst einen Notruf auslösen kann.
Vor allem auf Fehmarn hast Du Dir ein enges Netzwerk in der Kitesurf-Szene aufgebaut und engagierst Dich in der Nachwuchsarbeit. Was gefällt Dir an der Insel?
Ich bin mit dem Fahrrad in fünf Minuten am Strand und damit schnell auf dem Wasser. Das ist eine Freiheit, die ich in meiner Geburtsstadt Hamburg nicht hätte. Auf Fehmarn gibt es in meinen Augen die besten Spots in Deutschland und das größte Potential für den Kitesport. Für meinen Beruf ist die Insel einfach optimal.
Was machst Du am liebsten, wenn Du mal einen Tag oder ein Wochenende frei hast?
Ich verbringe möglichst viel Zeit mit meiner Familie, mit meinen beiden Kindern. Ich genieße die gemeinsamen Momente mit ihnen, es ist eine ganz tolle Zeit.
Was treibt Dich an?
Vor allem mein Ehrgeiz. Ich möchte mich immer verbessern. Das betrifft nicht nur den Sport, sondern auch alle anderen Lebensbereiche. Und klar, beim Kiten möchte ich beständig besser werden, das nächste Level erreichen.
Was macht Dich glücklich?
Kleine und große Erfolge: Wenn ich mit Jugendlichen trainiere und einer von ihnen mit einem Mal einen Trick kann, an dem er vorher immer gescheitert ist. Denn ich kann mich noch sehr genau an die Situation erinnern, in der es für mich das erste Mal gewesen ist und wie glücklich es mich gemacht hat.
Wie lautet Dein Lebensmotto?
Ich lebe sehr erfolgreich nach zwei Grundphilosophien: ‚Planlos geht der Plan los‘ und ‚zufrieden leben, nicht zufriedengeben‘. Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben, wie es gerade ist. Aber ich möchte immer noch einen Schritt weitergehen. Und bisher haben sich die besten Sachen aus zufällig auf mich zugekommene Dinge entwickelt. Daher sehe ich sie immer auch als große Chance.
Zur Person
Linus Erdmann wurde am 25. September 1996 in Hamburg geboren. Die erste Deutsche Meisterschaft im Freestyle errang er 2012. Danach sicherte er sich weitere sieben Mal den nationalen Titel in dieser Disziplin. Seit 2020 lebt der Kitesportprofi mit seiner Frau Lonia auf Fehmarn, das Ehepaar hat zwei Kinder. Linus Erdmann ist der 24. Prominente, der das Botschafter-Ehrenamt der Seenotretter übernommen hat. Die Reihe begann im Jahr 2000 mit Liedermacher Reinhard Mey.